Zum 100. Geburtstag von Victoria de los Ángeles

Victoria de los Angeles

Langsam gewöhnt man sich an sie, die Regie von Vincent Huguet zu Richard Strauss‘ höchst anspruchsvoller Oper „Die Frau ohne Schatten“. Der Regisseur versucht erst gar nicht, das symbolisch wie motivisch überfrachtete Werk zu deuten, verzichtet auf jegliche Psychoanalyse, und wurde dafür nach der Premiere viel gescholten, weil der herausragenden musikalischen Qualität der Produktion keine szenisch äquivalente Umsetzung entgegengesetzt sei. Huguet setzt auf die Entwicklung der drei Frauengestalten, die klinischen Symptome wie Pathologien sowohl der weiblichen als auch der männlichen Charaktere werden ausgespart. Die ganz aus Musik und Text entwickelte Personenregie ist bisweilen bewegend, berührend, wenn auch nicht unbedingt zwingend, hat jedenfalls nicht die Qualität der aus der Psychoanalyse entwickelten Vorgängerinszenierung von Robert Carsen.
Im Hinblick auf die musikalische Wiedergabe, die im Rahmen dieser Wiederaufnahmeserie im Haus am Ring im Oktober 2023 einer Offenbarung nahekommt, erscheint dies jedoch verschmerzbar, kann man die „Die Frau ohne Schatten“ denn vor allem hören – um zu erleben, was sie auch und vor allem ist, nämlich ein „Märchenspiel vom Überleben der Menschheit“ (Hans Mayer). Das Publikum der Wiener Staatsoper hat ähnlich dem Färber Barak auch am Schluss dieser denkwürdigen, letzten Aufführung der aktuellen Wiederaufnahmeserie am 24. Oktober 2023 „gejubelt, wie keiner gejubelt“. Der heftige Applaus gerät hier auch immer wieder zur Demonstration pro Christian Thielemann. Hier in Wien genießt der Dirigent die besondere Bewunderung und die uneingeschränkte Liebe des Publikums, der Wiener Staatsoper ist er ja besonders verbunden. Und es mag der Faszination des unwiederholbaren Augenblicks geschuldet sein, dass man zu hören glaubte, das Orchester der Wiener Staatsoper hätte an diesem letzten Abend der Serie noch um eine Spur glänzender, sinnlicher, eruptiver, nuancierter, farbenreicher und sinnlicher geklungen als in der ebenfalls besuchten Aufführung am vergangenen Samstag. Und im rauschhaft gesteigerten Orchesterfurioso gegen Schluss gönnt sich Thielemann an diesem Abend ein Bad in diesem von der Formation verströmten Klangmeer, nachdem es seinen Anweisungen zuvor bedingungslos gefolgt war und ihm jeden Wunsch erfüllte, ja ihn und das Publikum nahezu überreich beschenkte. Ähnlich hervorragend, wie in der Aufführung zuvor, war auch wieder das mit großen Stimmen ausgestattete Ensemble auf der Bühne – Elza van den Heever (Kaiserin), Elena Pankratova (Färberin), Tanja Ariana Baumgartner (Amme), Andreas Schager (Kaiser) und Tomasz Konieczny (Barak) in den fünf Hauptrollen.
Am ersten Abend der aktuellen Aufführungsserie von „Die Frau ohne Schatten“ am 14. Oktober 2013 wurde Christian Thielemann auf offener Bühne nach der Vorstellung von Staatsoperndirektor Dr. Bogdan Roscic zum Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper ernannt, außerdem erhielt er den Ehrenring der Wiener Staatsoper aus dem Hause Juwelier Wagner. Dem Dirigenten wurde im Rahmen der Auszeichnung auch ein Plakat jener Aufführung überreicht, in der er zum ersten Mal am Pult der Wiener Staatsoper gestanden ist, und zwar in „Cosi fan tutte“ von Wolfgang Amadeus Mozart am 19. November 1987. Seither hat er, neben dem genannten Werk und Giuseppe Verdis „La traviata“, Wiederaufnahmen von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Der Ring des Nibelungen“ dirigiert. Neben der „Frau ohne Schatten“ hat er noch Premieren von Wagners „Tristan und Isolde“ sowie Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ musikalisch betreut.
Im Frühjahr des nächsten Jahres kehrt Thielemann für eine Premierenserie von Wagners „Lohengrin“ zurück, für jenes Werk also, das er bereits im Wagnerjahr 2013 in einer Premierenserie dirigieren sollte, damals kurzfristig wegen seiner spontanen Verpflichtung zu den Osterfestspielen Salzburg von dieser Aufgabe jedoch wieder entbunden werden musste. Gemeinsame Projekte sind bis 2030 geplant. Das Wiener Publikum freut sich jedenfalls auf viele Abende mit Christian Thielemann, auch wenn er ab der Saison 2024/2025 als Nachfolger von Daniel Barenboim an die Berliner Staatsoper berufen wurde.

Zum 100. Geburtstag von Stanislaw Skrowaczewski

Stanislaw Skrowaczewski Deutsche Radio Philharmonie

Die Oper Graz eröffnet ihre neue Saison am 30. September 2023 mit LES CONTES D’HOFFMANN, der am 10. Februar 1881 an der Opéra-Comique Paris uraufgeführten opéra-fantastique in fünf Akten von Jacques Offenbach (1819 – 1880). Das Libretto stammt von Jules Barbier – nach dem gleichnamigen, 1881 uraufgeführten Theaterstück von Jules Barbier und Michel Carré, das auf verschiedenen Erzählungen des deutschen, romantischen Schriftstellers E. T. A. Hoffmann (1776 – 1822) beruht.
Vor der Fertigstellung des Werkes gestorben, musste der Komponist das Werk als unvollendeten Torso hinterlassen, weshalb unterschiedliche Fassungen von der Oper existieren. Viel für verschollen gehaltenes Material ist in den letzten Jahrzehnten entdeckt, gesichtet und ausgewertet worden. Anhand einer vom Schott-Verlag Mainz zur Verfügung gestellten Zusammenführung aller bisher bekannten Quellen, der sog. „Kaye-Keck-Fassung“, kann sich jedes Opernhaus eine ihrer Konzeption entsprechende Version erarbeiten. Und Offenbach selbst hätte wohl Gefallen daran gefunden, dass sein „Hoffmann“, Mysterium und Summe seines künstlerischen Schaffens, nie wirklich zu Ende erzählt worden ist.
Der Dichter Hoffmann ist in der Oper selbst der Held der Erzählungen – im Gegensatz zu den literarischen Werken Hoffmanns, in denen die männlichen Helden andere Namen tragen oder fiktive Ich-Erzähler sind. Auf den erklärenden ersten Akt, worin die Muse darüber in Kenntnis setzt, dass sie beabsichtigt, den Dichter von seinen unglücklichen Liebschaften abzulenken und zur Dichtkunst zurückzuführen, schließen die drei Mittelakte mit den inhaltlich voneinander völlig unabhängigen Erzählungen über reale oder traumhafte Liebeserlebnisse Hoffmanns an und besinnt sich Hoffmann im abschließenden fünften Akt auf die Kunst, indem er der Muse folgt. Inhaltlich zusammengehalten werden die fünf Akte durch die Forderung des Komponisten, die vier Geliebten Hoffmanns, die vier Widersacher sowie die vier Dienerrollen jeweils von denselben Interpreten singen zu lassen, was im Fall der Bösewichte und Domestiken unerlässlich, im Fall der Frauen wegen der unterschiedlichen Stimmlagen bzw. Stimmcharaktere problematisch erscheint, weshalb verschiedene Interpretinnen der Frauenrollen zweckmäßig erscheinen. Die in der Oper enthaltene Anspielung auf Mozart ist kein Zufall: Beide Künstler, Offenbach und E. T. A. Hoffmann, begeisterten sich für Mozart. Entsprechend der Erzähl- wie Fabulierkunst E. T. A. Hoffmanns ist der spannende Kontrast karikierend-komischer und expressiv-tragischer Elemente charakteristisch für Offenbachs abwechslungsreiche Musik. Zum Reinhören in das Werk empfehlen sich folgende Einspielungen auf CD: Nicolai Gedda, André Cluytens, Warner Classics; Plácido Domingo, James Levine, Orfeo; Francisco Araiza, Jeffrey Tate, Decca; Neil Shicoff, Sylvain Cambreling, EMI Classics; Roberto Alagna, Kent Nagano, Warner Classics.
War die Titelpartie in der Oper ursprünglich noch für Bariton konzipiert, steht und fällt heute das Stück auf der Opernbühne mit einem Tenor allererster Güte, was Gesang und Darstellung betrifft. Matthias Koziorowski, ein deutscher Tenor aus Essen, seit der Spielzeit 2021/2022 dem Ensemble der Oper Graz angehörend, wird sich dieser spannenden wie dankbaren Herausforderung stellen.
Jacques Offenbachs Oper über Schaffen und Scheitern eines Künstlers wird in dieser Neuproduktion der Oper Graz, die eine Koproduktion mit der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf darstellt, gleich vier Regieteams mit komplett unterschiedlichen Ansätzen anvertraut. Regisseur Tobias Ribitzki sorgt für die Kontinuität des ersten und fünften Aktes. Für den Olympia-Akt, basierend auf E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“, sorgt die britische Theatergruppe „1927“ mit einer Kombination aus Filmanimation und live acting. Der aus Australien stammende Puppenspieler Neville Tranter inszeniert mit lebensgroßen bizarren Klappmaulpuppen, von Sänger: innen und Puppenspieler: innen gemeinsam geführt, den auf der Erzählung „Rat Krespel“ von E. T. A. Hoffmann zurück gehenden Antonia-Akt. Schließlich gestaltet die niederländische Choreographin Nanine Linning mit Tanz, Design, Video und bildender Kunst den auf „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“ E. T. A. Hoffmanns beruhenden Giulietta-Akt. Die skurril-fantastischen Erzählungen eines Romantikers erwartet also eine höchst abwechslungsreiche, szenische Umsetzung, die dem facettenreichen Werk mit Alkohol, Bühnenzauber, Frauen, Ironie, Parodie und Travestie hoffentlich gerecht wird.
Als neuer Intendant mit Beginn der laufenden Spielzeit freut sich Ulrich Lenz, ein deutscher Musikwissenschaftler und Dramaturg, in Graz – die steirische Landeshauptstadt gilt ja gemeinhin als führend, was die Avantgarde in Österreich betrifft – auf einen abwechslungsreichen Spielplan – changierend zwischen Tradition und Moderne, angereichert durch Erstaufführungen – am Opernhaus, dem wohl schönsten Theaterbau des Architektur-Büros Fellner und Helmer. Mit Vassilis Christopoulos, einem gebürtigen Münchner mit griechischen Wurzeln, steht der Oper Graz auch ein neuer Chefdirigent zur Verfügung, der nach den eher belanglosen Jahren seines Vorgängers hoffentlich wieder für deutliche, interpretatorisch starke Akzente am Pult des Grazer Philharmonischen Orchesters sorgen wird.