Eine vertane Chance – Donizettis LES MARTYRS im MusikTheater an der Wien

Donizetti Les martyrs MusikTheater an der Wien John Osborn

Les martyrs (Die Märtyrer) ist eine am 10. April 1840 an der Pariser Oper uraufgeführte Grand Opéra in vier Akten von Gaetano Donizetti nach einem französischen Text von Eugène Scribe . Das Libretto basierte auf einem von Salvadore Cammarano verfassten Libretto für eine italienische Originalfassung namens Poliuto , eine für Neapel vorgesehene, dort von der Zensur aber abgelehnte und erst nach dem Tod des Komponisten aufgeführte Oper. Die Originalquelle für beide Versionen von Donizettis Werk ist Pierre Corneilles Theaterstück Polyeucte, welches das Leben von St. Polyeuctus, eines frühchristlichen Märtyrers, beinhaltet.

Neben der Christenverfolgung im Armenien des 3. Jahrhunderts durch die römische Besatzungsmacht wird in der Inszenierung des Stückes, mit dem das MusikTheater an der Wien seine aktuelle, noch im Museumsquartier stattfindende Saison eröffnet, eine zweite Ebene eingeführt, indem der Genozid an den Armeniern durch die Türkei 1915 thematisiert und so der Fokus ganz auf die Leidensgeschichte des armenischen Volkes fokussiert wird. Obwohl das mit der armenischen Christenverfolgung so gut wie nichts zu tun hat, würde dieser Regiekniff im eigentlichen Liebesdrama Donizettis durchaus Sinn machen, wenn von einer schlüssigen Umsetzung auszugehen wäre. Über die kindisch infantile, jegliche Personenregie entbehrende, bisweilen an eine schrille Drogenparty erinnernde Inszenierung von Cezary Tomaszewski und der grellbunten, überwiegend in zuckerlrosa gehaltenen Ausstattung (Aleksandra Wasilkowska) mit geschmacklosen (Glitzer)Kostümen, Masken und gestaltlosen Körperteilen sowie einer bewegungsreichen, Homoerotik nicht aussparenden (Lust)knaben-Choreografie (Barbara Olech) sei jedoch dezent der Mantel des Schweigens gehüllt.

Ein Besuch einer Aufführung der aktuellen Serie dieses interessanten Werkes lohnt jedoch aus mehreren Gründen.

Zum Ersten ist da die Wiederbegegnung mit einer ganz spezifischen Musik zu nennen: Donizetti beherrscht nahezu die Vorlieben seines Pariser Publikums sowie unterscheidet sich die gesamte Klangwelt des Stückes deutlich von bekannten Opern wie Maria Stuarda oder Lucia di Lammermoor. Die italienische Betonung des Ziergesanges mit der Zuschaustellung um seiner selbst willen ist verschwunden, stattdessen regiert passioniertes Singen, gepaart mit einem reich strukturierten Orchester, weshalb Kenner diese kostbare Partitur Donizettis sogar für seine beste halten. Die musikalische Seite der Neuproduktion ist denn auch bei Jérémie Rhorer und dem eigentlich auf moderne Partituren spezialisierten ORF Radio-Symphonieorchester Wien in sehr guten Händen, wird doch für eine geschmackvolle Umsetzung im Graben im harten Kontrast zur unästhetischen Inszenierung auf der Bühne gesorgt.

Zum Zweiten kann das MusikTheater an der Wien mit einer hörenswerten Besetzung aufwarten. Die halsbrecherische Partie des Polyeucte hat Donizetti für Gilbert Duprez, der von 1837 bis 1847 als Erster Tenor an der Pariser Oper tätig war, geschrieben und auf dessen extremen stimmlichen Möglichkeiten zugeschnitten. Duprez war einer der ersten Tenöre überhaupt, der das hohe C aus der Brust und nicht mit dem Falsett gesungen hat, weshalb dieser Sänger als Wegbereiter für alle modernen Tenöre gilt. Die sehr schwierige Partie wird auch in der dritten Aufführung der aktuellen Serie am 23. September 2023 vom amerikanischen Tenor John Osborn, am MusikTheater an der Wien bereits in Gioacchino Rossinis Otello und Guillaume Tell zu erleben, bravourös bewältigt – obwohl der über eine phänomenale Stilistik, Stimmkultur und Phrasierungskunst verfügende Sänger an diesem Abend hin und wieder mit dem Stimmsitz zu kämpfen hat, was vor allem bei den Aufschwüngen in die Extremlagen der Partie hörbar ist. Trotz der geringen Einwände ist ihm höchster Respekt bei der formidablen Gestaltung der einerseits lyrischen, andererseits hochdramatischen Partie zu zollen. Neben John Osborn gefallen mit durchwegs starken Stimmen Roberta Mantegna mit bisweilen etwas schrillem Sopran als Pauline und vor allem Mattia Oliveri mit kräftigem Bariton als Sévere sowie David Steffens mit flexiblem Bass als Felix. Die kleinen Partien sind rollendeckend besetzt. Der Arnold Schoenberg Chor, einstudiert von Juan Sebastián Acosta, vermag mit wunderbar differenziertem Chorgesang auf die gewohnte Weise zu begeistern.

Zu bedauern ist, dass die Wiederentdeckung bzw. Wiederbelebung eines mit wunderbarer, über den Maßen gehaltvollen Musik ausgestatteten, weitgehend unbekannten Werkes des Genres Grand Opéra durch eine desolate, absurde szenische Umsetzung beeinträchtigt wurde.

Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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