Wien hat eine neue Klytemnästra: Nina Stemme debütiert als Gattenmörderin in ELEKTRA an der Staatsoper

ELEKTRA von Richard Strauss wieder an der Wiener Staatsoper: Programmzettel vom 14. Dezember 2025 © Thomas Rauchenwald

So sicher und nachhaltig beeindruckend spielt man das Stück wohl nur an der Wiener Staatsoper – vor allem dann, wenn das mit vielen Wiener Philharmonikern bestückte Orchester der Wiener Staatsoper, sehr gut disponiert, groß aufzuspielen bereit ist. Gewaltige Eruptionen sind da aus dem Graben zu vernehmen, sodass man eigentlich um die Gesangskünstler auf der Bühne bangen muss. Alexander Soddy am Pult achtet aber auch stets auf die SängerInnen auf der Bühne, bettet deren Stimmen gekonnt in die Orchesterwogen ein. Und das Orchester gibt enorm viel an diesem 14. Dezember 2025 – seinen ganzen sinnlich schimmernden Streicherglanz, nahezu brutale Entladungen bei voller Transparenz eines starken, großen Klanges, geschnitten sauber, rundes Blech ebenso wie glänzend feines Holz. Der Dirigent setzt von Anfang an auf Hochspannung, dirigiert mit enormem Drive, entfaltet derart einen Sog, der sich einem dithyrambischen Orchesterfuror am Schluss entlädt, herausgemeißelt die Agamemnon-Akkorde zu Beginn und am Ende, innig berührend der Lyrismus der Streicher in der Erkennungsszene: Derart gerät der Orchesterpart zum stärksten Teil des Abends.

Ausrine Stundyte ist nach wie vor keine Hochdramatische, keine genuine Elektra, sie forciert ungemein, vermag letztlich trotz vieler schneidender Schärfen, zu denen ihr in dramatische Lagen gehende Sopran neigt, zu beeindrucken. Camilla Nylund ist eine bereits frauliche, blühende Chrysothemis, berührt mit leuchtenden Gesangsbögen, ihr ist die gewiss stärkste stimmliche Leistung des Abends zu attestieren – neben dem mit Spannung erwarteten Rollendebüt von Nina Stemme als Klytemnästra, die eine abgründige Psychostudie einer neurotisch tramatisierten Gattenmörderin liefert, wobei sie die Partie stark mit voller, satter Stimme gestaltet. Derek Welton ist ein prägnanter Orest und Jörg Schneider singt mit schmeichelndem Tenor den Ägisth.

Nach wie vor dominiert das überdimensionale, ramponierte Standbild des gemeuchelten Agamemnon die Bühne: die legendäre Inszenierung von Harry Kupfer (Bühne: Hans Schavernoch, Kostüme: Reinhard Heinrich), vermag phasenweise noch immer zu packen, besonders wenn eine Singschauspielerin wie Frau Stundyte die Titelrolle verkörpert. Kupfer, der große Personenregisseur, hat immer den Menschen in seinen Regiearbeiten gesucht und ins Zentrum gerückt: Elektra, in einem alten, verlotterten Königsmantel ihres Vaters, ist nicht nur ein kreischender Dämon, eine traumatisierte Rachefurie, sondern auch ein zutiefst verletzter, leidender Mensch. Sie hat sich nie von ihrem Vater gelöst – am Schluss verheddert sie sich in den Seilen, die von seiner riesigen Skulptur herunterhängen, stirbt in der tragischen Erkenntnis, dass es nach gestillter Rache durch den Muttermord Orests kein anderes Leben für sie mehr geben kann. Und auch die nach Partner- und Mutterschaft sehnende Chrysothemis gibt sich ihrer Ekstase hin, indem sie sich im blutdurchtränkten Mantel Aegisths zum Orchesterfuror am Schluss am Boden wälzt. Klytemnästra ist gleichsam starke Frau wie leidender Mensch, nicht nur ein abgehalftertes Wrack. Diese psychologischen Fokussierungen machen den kompromisslos intensiven Menschendarsteller Kupfer aus: So kann sich Operntheater immer wieder ereignen und das Publikum weiß dies zu danken.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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