Nach Mozarts „La clemenza di Tito“ gibt es an der Wiener Staatsoper zum Saisonauftakt mit Vincenzo Bellinis Melodramma in zwei Akten „La sonnambula“ mit dem Libretto von Felice Romani gleich die zweite Wiederaufnahme. Die Inszenierung von Marco Arturo Marelli hatte bereits im Oktober 2001 Premiere, stammt also noch aus der Ära von Ioan Holender. Unter Beibehaltung der Schweizer Berge als Schauplatz verlegt der Regisseur die Handlung in ein an den „Zauberberg“ von Thomas Mann gemahnendes Hotel bzw. Sanatorium, in eine Welt, in der die inneren Befindlichkeiten der handelnden Personen auch durch Wetterkapriolen, sprich einen Schneesturm, verdeutlicht werden. So weit, so gut. Auch wenn sich noch immer nicht alles in Marellis Inszenierung erschließen mag, verfügt sie über eine angenehme Ästhetik, die die Jahrzehnte überdauernd, immer noch sehr gut im Repertoire funktioniert.
Komponiert für eine legendäre Sängerin, die Sopranistin Giuditta Pasta, ist und bleibt „Die Nachtwandlerin“ eine Primadonnenoper erster Güte und sollte sie auch nur wirklich dann gespielt werden, wenn die Hauptrolle mit einer solchen besetzt werden kann. Sind in der jüngeren Staatsoperngeschichte nach Stefania Bonfadelli in der Premiere noch Natalie Dessay und Anna Netrebko in der Hauptrolle besonders hervorgetreten, feiert nun am 9. September 2023 die Südafrikanerin Pretty Yende ihr Rollendebüt als Amina im Haus am Ring. Wunderbar schwebt die Stimme gleich zu Beginn im noch etwas nervösen „Come per me sereno“, gewinnt aber bereits im Duett „Son geloso del zefiro errante“ mit Elvino stark an Farbe, Fülle und Phonation. Immer dichter entwickelt sich das Rollenporträt der überaus sympathischen Sängerin im Verlauf des Abends, vollends gelingt dann im zweiten Akt die große Nachtwandelszene mit dem wunderschön wie opaqueverhangen gesungenen „Ah non credea mirarti“. Und dass Singen bei allen Anforderungen, die Bellini an seine Sängerin stellt, auch die reinste Freude sein kann, beweist die Sängerin mit dem abschließenden „Ah! Non giunge uman pensiero“: Triller, Girlanden, Verzierungen, Koloraturen und Spitzentöne perlen nur so aus ihrer Gurgel, weshalb ihr auch der verdiente Publikumsjubel sicher ist.
An ihrer Seite zeigt der Mexikaner Javier Camarena, dass er auch an einem nicht so guten Tag ein ganz hervorragender, feiner Stilist im verzierten Repertoire ist und beeindruckt mit geschmackvoller Phrasierung wie Stimmführung. Mit Roberto Tagliavini ist ein echter basso profondo als Graf Rodolfo aufgeboten, die weiteren Partien sind rollendeckend mit Szilvia Vörös (Teresa), Maria Nazarova (Lisa) und Jack Lee (Alessio) besetzt. Den Chor der Wiener Staatsoper hat Martin Schebesta einstudiert – und am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper ist Giacomo Sagripanti ein echter Sachwalter der Partitur Bellinis und den Ausführenden auf der Bühne ein sehr gut agierender, bemühter Partner. Und die Tatsache, dass viel junges Publikum an diesem Abend den Weg in die Oper gefunden hat, ist neben dem berührenden Rollendebüt von Pretty Yende ein weiterer Grund zur Freude.