Messiaens kolossaler „Saint Francois“ als spirituelle Erfahrung in Genf

Jonathan Nott und Protagonisten beim Schlussapplaus © Thomas Rauchenwald

Zum ersten Mal überhaupt setzte das Grand Theatre de Geneve im April 2024 eines der monumentalsten Bühnenwerke auf seinen Spielplan, die am 28. November 1983 in Paris im Palais Garnier uraufgeführte Oper in drei Akten und acht Bildern, „Saint Francois d’Assise“, von Olivier Messiaen, der auch das Libretto dazu verfasst hat. Diese „Scenes franciscaines, gewiss des Komponisten opus summum, sind ein gewaltiges Werk: Weniger eine Oper, vielmehr ein Oratorium, noch eher ein Ritual, ein Mysterienspiel mit vorwiegend innerer Handlung statt äußerlicher Dramatik, wofür der Synästhet Messiaen, der sich selbst als Komponist, Ornithologe und Rhythmiker bezeichnete, eine der beeindruckendsten, klangfarbenreichsten und schillerndsten Partituren des 20. Jahrhunderts geschaffen hat. Das Werk ist die Summe eines Lebenswerkes, dessen Musik den Farben, den Vögeln und den Wundern folgt, um die wachsende Gnade in der menschlichen Seele zu finden und zu teilen. Francois’ letzte Worte vor seinem Tod – „Musik und Poesie haben mich zu Dir geführt …“ – sind gleichsam als Messiaens künstlerisches Glaubensbekenntnis zu sehen.

Die Aufführungsdauer von fünfeinhalb Stunden inklusive zweier Pausen stellt auch am 16. April 2024 für alle Beteiligten – Ausführende wie Publikum – eine starke Herausforderung dar. Wer allerdings die Bereitschaft aufbringt, sich darauf einzulassen, vor allem mit offenem Herzen zu hören, wird mit einer außergewöhnlichen musiktheatralischen, spirituellen Erfahrung beschenkt, sogar ungemein bereichert, ist doch letztlich aus Genf von einer der spannendsten wie interessantesten Musiktheater-Neuproduktionen der laufenden Saison zu berichten.

Mit Höchstspannung wurde vor allem die Inszenierung des aus Algerien stammenden Künstlers Adel Abdessemed erwartet, der in seinen Arbeiten vorwiegend installativ oder mit Videos arbeitet und mitunter verstörend bzw. schockierend auf das Publikum wirkt. Bleibt er seiner Linie, mit seinem Oeuvre, changierend zwischen Terror, Migration, Gewalt, Leiden, Tod und dem Verlust von Zivilisation, zu polarisieren, treu oder findet er einen – als starken Kontrast dazu, eigenen – Weg zu Messiaens tiefer, aus dem Herzen kommenden Gläubigkeit? Und Abdessemed, der auch für Ausstattung und Video verantwortlich zeichnet, lässt sich ganz auf die mediativ kontemplative Atmosphäre, die Messiaens Werk und seiner Musik innewohnt, ein – und nimmt das Werk in seiner franziskanischen Innerlichkeit ernst. Gott ist Liebe, Freude und Schönheit: Höchst überraschend greift Abdessemed diese zentrale Idee des gesamten Schaffens Messiaens auf. Jean Kalman steuert das Licht bei, Christian Longchamp ist für die Dramaturgie verantwortlich. Abdessemeds Personenregie ist denkbar einfach und würde auch in einer konzertanten Aufführung des Werkes ihre eindringliche, starke Wirkung nicht verfehlen. Die Bühne ist äußerst spärlich und nur mit einzelnen großen, betont symbolträchtigen Elementen bebildert. Wiederkehrend sind immer wieder zwei große Scheiben, die sowohl als Projektionsflächen – überwiegend für die Vogelwelt, die sowohl mit dem hl. Franziskus als auch mit dem Komponisten eng verbunden ist – dienen als auch auf das Judentum als den Ursprung der monotheistischen Weltreligionen verweisen. Auch sonst findet der Regisseur immanente Entsprechungen zu den einzelnen Bildnern, die ursprünglich von Messiaen für jedes Tableau konkret festgelegt wurden. In seiner rauschenden Farbenpracht, verstärkt durch die großartige Musik, zum Fest für Auge wie Ohr gerät das sechste Bild – Le Preche aux oiseaux (Die Vogelpredigt), wo Abdessemeds grellbunte Videos und Kalmans stimmig schimmerndes, plastisches Licht verzaubern. Gegenwärtig in der bewusst einfach gehaltenen Inszenierung, der Musik wird uneingeschränkter Vorrang eingeräumt, was eine Seltenheit im modernen Regietheater darstellt, sind auch die Themen Zerstörung der Umwelt wie Vernichtung von Lebensraum. Bezugnahmen auf das Mittelalter sind spärlich, lediglich einmal sieht man Cimabues bekanntes Fresko von Franz von Assisi. Die Mönche sind keine aus der besseren Gesellschaft Ausgestiegene, gemahnen eher an Obdachlose oder Bettler mit ihren Kutten, die bestückt sind mit Gegenständen aller Art, vorwiegend Elektroschrott wie Compact Discs, Computerplatinen und Taschenrechnern. Besonders auffällig an der Regiearbeit ist ihre äußerst reduzierte Ästhetik, was sie weitgehend umso berührender daherkommen lässt.

Den enormen musikalischen An- wie Herausforderungen des Werkes stellen sich Jonathan Nott, dessen besondere Affinität zu moderner Musik bereits eine gelungene Auseinandersetzung mit der farbenreich komplexen Musik Messiaens vermuten ließ, und das Orchestre de la Suisse Romande. Mark Biggins hat Choeur du Grand Theatre de Geneve, verstärkt vom Choeur Le Motet de Geneve, auf die herausfordernde Aufgabe sehr gut vorbereitet. Mehr noch, als es die szenische Seite der Produktion betrifft, ist man, im Hinblick auf die musikalische, geneigt zu sagen, dass es sich um die Aufführung des Jahres handelt. Der Orchestergraben ist geschlossen. Das unter anderen mit Windmaschine, Donnerblech und Ondes Martenot riesig besetzte Orchester und die Chöre werden im hinteren Drittel der Bühne aufgestellt, wodurch sich akustisch völlig neue Konstellationen ergeben – auch, weil das Orchester derart beinahe im Zentrum der Regie steht. Die von Messiaen geschaffene „musique en vitrail“, was so viel wie „Buntglasmusik“ bedeutet, lotet Nott mit dem fein glühenden, sinnlich timbrierten Orchester fein aus, exzellent, was die herrlichen Klangfarben betrifft, kammermusikalisch filigran, und derart mit ganz großer, magischer Sogkraft. Vordergründig plakativ, dynamisch überwältigend, ist nichts an dieser verinnerlichten Interpretation, die den Intentionen ihres Schöpfers derart mehr als gerecht wird. Durch die enorme Spannung, die Nott erzeugt und den ganzen überlangen Abend hindurch halten kann, entfaltet sich eine nahezu fesselnde Langsamkeit bei schier überwältigender Leuchtkraft: Die Musik, derart aufbereitet, bewegt sich vom gleißend hellen Licht bis zur finstersten Nacht. Den ganzen Reichtum der Partitur vermag der Dirigent mit dem Orchester zu vermitteln, die schlichten Passagen ebenso wie groß aufgetürmte Orchesterkaskaden.

Was die Gesangspartien betrifft, gehört die des Saint Francois zu den schwierigsten des modernen Musiktheaters. Wer noch die verinnerlichte Interpretation von José van Dam als entrückten Gottesmann bei der Pariser Uraufführung oder auch bei den Salzburger Festspielen im Ohr hat, wird von der Gestaltung der Titelpartie von Robin Adams gewiss irritiert sein, klingt sein präsenter, ohne jegliche Ermüdungserscheinungen über den ganzen, überlangen Abend daherkommender Bariton kräftig und ungemein viril. So klingt ein im Kern gesunder, durch und durch dem Leben zugewandter Mann – nicht ein Leiden am eigenen Körper nachvollziehender, die Stigmata Christi empfangender, leiser Schmerzensmann. Das gesangliche Interpretationskonzept des Briten passt aber genau zur weltzugewandten Regiearbeit von Abdessemet. Auf hohem stimmlichem Niveau agieren auch die Übrigen: Claire de Sévigné als Engel mit klarem, glockenhellem Sopran, Ales Briscein mit feinherbem Tenor als Leprakranker, auch die Fréres sind adäquat mit markanten Stimmen besetzt – Kartal Karagedik (Léon), Jason Bridges (Massée), Omar Mancini (Èlie), William Meinert (Bernard), Joé Bertili (Sylvestre) und Anas Séguin (Ruffin).

Frenetischer Applaus gibt es vom Publikum am Ende des Abends. Die Reise nach Genf hat mehr als gelohnt. Glücklich können sich all‘ jene schätzen, die sich dieses Erlebnis, dieses „Liebesgeheimnis“, so Messiaen selbst über das Werk, zu erfahren, nicht entgehen haben lassen.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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