„Nacht der Trunkenheit und unendlicher Entrücktheit!“: Berlioz‘ „Les Troyens“ in Salzburg – ohne Sir John

Zwei Tage vor der geplanten konzertanten Aufführung von Hector Berlioz‘ „Les Troyens“ wurden die beteiligten Tournee-Veranstalter, neben den Salzburger Festspielen die Château de Versailles Spectacles, das Musikfest Berlin und die BBC Proms, von Monteverdi Choir and Orchestra (MCO) informiert, dass Sir John Eliot Gardiner sein Dirigat des Riesenwerkes zurücklegt – nach Rücksprache mit seinem Arzt, nachdem der 80jährige, britische Dirigent am Dienstagabend beim Festival Berlioz in La Côte-Saint-André nach der Aufführung die Beherrschung verloren und einem mitwirkenden Sänger wegen eines falschen Abganges beim Applaus hinter der Bühne ins Gesicht geschlagen hatte. Es ist dies wohl der unrühmliche Abgang eines verdientermaßen Großen der Klassik, bedauerlicherweise auch bekannt für sein notorisch aufbrausendes Temperament und seine Arroganz. Wenn Gardiner ein wenig Altersweisheit nach diesem untragbaren Vorfall gewinnt, möge er es mit Giuseppe Verdis „Falstaff“ halten: „Va, vecchio John!

Die Aufführung von Berlioz‘ 1863 nur teilweise uraufgeführter und im Rahmen der aktuellen Tournee ungekürzt wiedergegebener grand opéra in fünf Akten, zu dem der Komponist auch das Libretto nach der „Aeneis“ von Vergil verfasst hat, wurde nun vom jungen portugiesischen Dirigenten Dinis Sousa, seit April 2021 Chefdirigent der Royal Northern Sinfonia, geleitet. Sousa ist auch Associate Conductor von MCO und hat während des gesamten Probenprozesses eng mit Gardiner und den Ausführenden zusammengearbeitet. Die Aufführung geriet auch ohne Gardiner vom Feinsten und wurde zu Recht zum Triumph für Sousa, der mit allen Ausführenden zu Recht mit lautstarken, stehenden Ovationen vom Publikum gefeiert wurde. Bereits zu Beginn des letztendlich fünf Stunden und zwanzig Minuten dauernden, kurzweiligen Abends gelingt es Sousa mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique einen fesselnden Sog zu erzeugen und kann er die Spannung, die nie nachlässt, über den ganzen Abend auch halten. Herrliche Orchesterschattierungen sind da zu vernehmen und beherrscht der junge Mann am Pult die Großflächigkeit der Klangfarbendisposition und Berlioz‘ großdimensionierte Tableaux. Das Orchester, 1989 von Gardiner gegründet, um der Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch stilistische Authentizität und Ausdruckskraft neue Perspektiven zu verleihen, entfaltet unter Sousas Leitung seinen ganzen herrlichen, warmgetönten Klang. Perfekt umgesetzt wurden auch Berlioz‘ klare Vorstellungen der Instrumentation, indem sogar die von ihm vorgegeben Saxhörner, die über einen eigenen herben, schmetternden Klang, verfügen, im „Trojanischen Marsch“ und in der „Königlichen Jagd“ eingesetzt werden. In den großen instrumentalen Passagen findet Sousa durchaus zu eigenen, überzeugenden Vorstellungen. Hinreißend agiert auch der Monteverdi Choir, 1964 ebenfalls von Gardiner gegründet, der neben einem Höchstmaß an Differenziertheit und einfach prächtigem Chorgesang auch höchste Dramatik wie Unmittelbarkeit verströmt.

Für alle, die sich eine rein konzertante Aufführung erwartet hatten, gab es denn auch eine Überraschung: Tess Gibbs hat eine szenische Einrichtung inklusive stimmiger Lichtregie (Rick Fischer, Johannes Grünauer) besorgt, bei der sämtliche Mitwirkende inklusive des Chores begeistert mitmachen und die, ob ihrer überzeugenden Personenregie, eine richtige Operninszenierung im Hinblick auf manches szenische Debakel bei den diesjährigen Salzburger Festspielen nicht vermissen lässt.

Nicht nur wegen ihrer Länge, auch wegen seines besonderen Umgangs mit der Singstimme werden „Les Troyens“ viel zu selten gespielt, verlangt der Komponist doch eine besondere Reinheit der Tonerzeugung und die Beherrschung der französischen Verslehre. Verbindet die beiden großen Frauengestalten dieser Kolossaloper – die Seherin Cassandre im ersten Teil (Der Fall von Troja), sowie die Königin Didon im zweiten Teil (Die Trojaner in Karthago) – die Unbedingtheit ihres Charakters, mag Berlioz für die Besetzung jeweils eine Falcon-Stimme vorgeschwebt haben. Dieser spezielle Stimmtypus lässt sich nicht eindeutig in die Stimmfächer von Sopran oder Mezzosopran einordnen und verlangt neben lyrischer Begabung auch große dramatische Kraft und Ausdrucksfähigkeit. Letzere sind vor allem bei Cassandre gefordert – die Engländerin Alice Coote verblüfft nahezu mit dramatischem Furor, dem sie ihrem Mezzo abgewinnt, muss ob der Dimensionen des Großen Festspielhauses zwar immer einmal forcieren, was ihrer ausgezeichneten Leistung aber keinen Abbruch tut. Über Ersteres sollt vor allem Didon verfügen und passt das herb schöne Mezzosoprantimbre, worüber der Irin Paula Murrihy hervorragend zu dieser Rolle, der alles abverlangt wird. Ergreifend, welche Stimmfarben Frau Murrihy ihrem ebenmäßig in allen Lagen geführten, perfekt fokussierten Organ vor allem im großen Duett mit Ènèe und bei ihrem bewegend gestalteten Tod entlockt; bestechend die Eleganz und die Noblesse ihrer Rollengestaltung. Für die schwere wie fordernde Tenorrolle des Ènèe aufgeboten wurde der Amerikaner Michael Spyres, der über geschmeidige wie kraftvolle Tongebung gleichermaßen verfügt und die von Berlioz geforderte voix mixte gekonnt einzusetzen vermag; jammerschade, dass ihm ausgerechnet in seiner großen Szene und Arie im fünften Akt ein Frosch in der Kehle das Leben schwer macht, er die Partie dann aber uneingeschränkt zu Ende singen kann. Neben den wunderbar besetzten Hauptrollen vermögen aber auch die Nebenrollen mehr als zu überzeugen, von denen Beth Taylor als altsatte Anna, Adéle Charvet – bezaubernd als Ascagne, Laurence Kilsby mit feinem Tenor als Iopas/Hylas, bassstark William Thomas (Narbal/Priam) und Alex Rosen (Schatten Hectors/Mercure) herausragen und Lonel Dhote als Chorébe solide das Ensemble ergänzt.

Ihr Rezensent hat diese „Trojaner“ am 26. August 2023 als „das“ Salzburger Opernereignis des diesjährigen Festspielsommers empfunden. Das Foto zeigt die Ausführenden beim Schlussapplaus im Großen Festspielhaus.

Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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