Ein großer Pianist spielt nicht mehr

Obwohl nie nur Tastenlöwe, war er mit einer stupenden, über den Dingen stehenden Technik ausgestattet, gepaart mit unbestechlichem Intellekt und großem interpretatorischem Mut. Sein Klavierspiel lebte von einer ungemein kontrollierten Intensität, lebendigen Phrasierung und einer Synthese aus Kraft und Schmiegsamkeit. Dazu kamen noch eine höchst feine Klangfarbenfantasie, eine ungemeine technische Brillanz sowie seine ganz eigene, nahezu einzigartige Verbindung von reiner Klangschönheit, vorwärtsstürmender Energie wie struktureller Logik bei fulminantem Anschlag. Ausdruckskraft, Spontaneität, Intelligenz und Intellekt im untrennbaren Zusammenhang – so könnte sein Credo als Interpret gelautet haben. Und das alles sorgte für regelrechte interpretatorische Sternstunden während einer beispiellos langen Karriere.

Neben Arturo Benedetti-Michelangeli galt er als einer der bedeutendsten Pianisten Italiens. Sein großes, weitgespanntes Repertoire reichte vom Klavierwerk Johann Sebastian Bachs über die große Literatur der Klassik und der Romantik – hier zählten vor allem Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Robert Schumann, Frederic Chopin, Johannes Brahms und Claude Debussy zu seinen Eckpfeilern – bis hin zur Musik unserer Zeit: Die Werke von Bela Bartok, Alban Berg, Pierre Boulez, Luigi Nono, Arnold Schönberg, Salvatore Sciarrino, Karlheinz Stockhausen und Anton Webern wusste beinahe keiner wie er in solch‘ einzigartigen Weise hör- und erlebbar zu machen. 

Geboren wurde er am 5. Januar 1942 in Milano, ebendort ist er nun am 23. März 2024 mit 82 Jahren gestorben. Ausgebildet am Mailänder Konservatorium gewann er 1959 den renommierten Chopin-Wettbewerb in Warschau, vor Start seiner beispiellosen internationalen Karriere holte er sich aber noch den letzten Feinschliff bei keinem Geringeren als den bereits erwähnten Benedetti-Michelangeli. Seine Auftritte als Pianist auf der ganzen Welt – Berlin, London, München, New York, Paris und Tokio – waren stets bejubelt. Daneben hatte er sich aber auch in politische Debatten eingemischt: Befreundet mit dem Komponisten Luigi Nono, der für ihn später das Klavierstück „… sofferte onde serene …“ komponierte, und dem Dirigenten Claudio Abbado, mit dem er oft im Konzertsaal musizierte und viele Aufnahmen eingespielt hatte, führte zu gemeinsamen Konzert-Aktionen im Rahmen der italienischen politischen Linken für die Arbeiterbewegung und für Studenten.

 Im Hinblick auf seine enorm zahlreichen Einspielungen Empfehlungen auszusprechen, erscheint unmöglich, deshalb auch unangebracht. Ich darf aber drei Lieblingsaufnahmen von mir herausgreifen und allen LiebhaberInnen passionierter Klaviermusik ans Herz legen: Das Klavierkonzert Nr. 1 von Frederic Chopin mit dem Philharmonia Orchestra unter der Leitung von Paul Kletzki, erschienen bei EMI, brillant feuriger hat wohl niemand dieses Konzert auf Schallplatte gespielt als der Pianist in jungen Jahren. Die Klaviersonaten Nr. 28 bis 32 von Ludwig van Beethoven, intellektuell gefühlvoll interpretiert, sowie eine Compact-Disc mit „Trois mouvements du Petrouchka“ von Igor Strawinsky, der Klaviersonate Nr. 7 von Sergej Prokofieff, den Variationen op. 27 von Anton Webern und der Sonate Nr. 2 von Pierre Boulez, ein funkelnd avantgardistisches Feuerwerk; beide erschienen bei der DGG.

 Was seinen Bezug zu Österreich betrifft, hat er mit seinen jährlichen Auftritten im Wiener Musikverein sowie im Rahmen der Salzburger Festspiele ebenfalls Maßstäbe gesetzt, die bis heute nachwirken. Die Musikwelt verliert mit Maurizio Pollini einen der ganz großen, wesentlichen Pianisten unserer Zeit.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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