Das Boston Symphony Orchestra ist einer der renommiertesten amerikanischen Klangkörper und steht für besondere Tradition, Konstanz, Intensität, Transparenz und Perfektion, gekennzeichnet von glühender Spielkultur wie höchst ausdrucksvoller Klangkultur. Diese Attribute stellen die besten Voraussetzungen für eindrucksvolle Interpretationen der Werke von Dmitrij Schostakowitsch dar, dessen 50. Todestag die Musikwelt in diesem Jahr gedenkt. Im Rahmen eines zweitägigen Gastspiels im Wiener Musikverein stehen in den beiden Konzerten des Orchesters aus Massachusetts im Großen Saal denn auch ausschließlich Werke dieses Komponisten, der zweifellos zu den größten Tonschöpfern des 20. Jahrhunderts zu zählen ist, auf dem Programm. Und Andris Nelsons, Gewandhauskapellmeister in Leipzig, seit 2014 auch Music Director in Boston und damit in einer Reihe großer Dirigenten wie Sergej Kussewitzky, Charles Munch, Erich Leinsdorf, William Steinberg, Seiji Ozawa und James Levine stehend, verfügt wie das Orchester über eine besondere Affinität zum Werk von Schostakowitsch.
Im ersten Konzert am 8. Mai 2025 steht zu Beginn das im Oktober 1955 in Leningrad von seinem Widmungsträger David Oistrach und Jewgenij Mrawinskij uraufgeführte Konzert für Violine und Orchester a-moll op. 77 auf dem Programm, dessen Solopart geprägt ist von der Bestimmung für einen Geiger der Extraklasse. Die lettische Violinistin Baiba Skride, sie spielt die wunderschön fein klingende Stradivari „Yfrah Neaman“, stellt sich ganz in den Dienst dieses besonders eindringlichen Werkes, das sie in getragenem Grundtempo im Verein mit Dirigenten und Orchester höchst spannend wiedergibt. In den langsamen Sätzen eins und drei entfaltet sie in ihrer tiefen, dichten Interpretation die tonlichen wie mehrstimmig linearen Qualitäten des Soloinstrumentes auf ganz besonders kantable Weise, die schnellen Sätze zwei und vier stattet sie mit einem virtuosen Feuerwerk geigerischer Finesse aus. Ernst und Aufrichtigkeit der Empfindungen stehen in dieser Gestaltung immer im Vordergrund bei diesem Werk, das in keinem Takt ein oberflächliches Virtuosenstück darstellt. Für das jubelnde Publikum gibt es noch eine Zugabe: die Sonate Nr. 3 – Imitatione delle Campane – von Johann Paul von Westhoff.
Nach der Pause tritt Boston Symphony dann groß besetzt zur Aufführung der ein „offizielles“ historisch-politisches Programm besitzenden Symphonie Nr. 11 g-moll op. 103 „Das Jahr 1905“, uraufgeführt von Natan Rachlin im Oktober 1957 in Moskau, an. Charakter und Stimmung dieses erschütternden Werkes trifft Andris Nelsons mit seinem blendend aufgestellten Orchester genau: sei es der eisige erste Satz, der beinahe hypnotisierende, quälend autokratische Kälte und Weite vor dem Winterpalast in St. Petersburg hervorruft, sei es die Brutalität der Schüsse auf die demonstrierenden Arbeiter im zweiten Satz, sie es im dritten Satz, der sich wie ein meditatives Requiem entfaltet, wie auch im mitreißenden, marschartig gesteigerten vierten Satz. Der Jubel nach der Aufführung dieser Symphonie im Musikverein will kein Ende nehmen, eine Zugabe gibt es nicht, es würde auch nach dieser eindringlichen Aufführung dieses am Schluss in hymnischer Größe ausklingenden Werkes keine passen.
Was bereits im ersten Konzert besonders deutlich wahrnehmbar war, setzt sich nahtlos im zweiten Konzert am 9. Mai 2025 fort: bereits zu Beginn eines jeden Werkes gelingt es Andris Nelsons mit seiner amerikanischen Formation unmittelbar eine – für Schostakowitsch charakteristische – latent bedrohliche Spannung zu erzeugen, aufzubauen, zu steigern und bis zum Schluss der jeweiligen Komposition fast schon unbehaglich belastend zu halten. Die Intensität des Orchesters, was das Musizieren betrifft, lässt niemals nach, was für die besonderen Qualitäten dieser MusikerInnen spricht. Schostakowitsch selbst bekannte, dass die im November 1939 in Leningrad von Evgenij Mrawinskij uraufgeführte Symphonie Nr. 6 h-moll op. 54 „sich in Stimmung und emotionalem Ton“ von der intensiv tragischen Symphonie Nr. 5 erheblich unterscheidet: „Hier wollte ich Gefühle des Frühlings, der Freude und der Jugend ausdrücken.“ Diese Sichtweise offenkundig zu machen gelingt dem Dirigenten in den schnellen Sätzen zwei und drei höchst überzeugend nach dem langen, langsamen ersten Satz, einem mit kammermusikalischer Delikatesse gespielten, tieftraurigen Largo.
Zum Schluss der kurzen Residenz am zweiten Abend des Boston Symphony Orchestra ist dann noch die Symphonie Nr. 15 A-Dur op. 141, uraufgeführt im Januar 1972 von Maxim Schostakowitsch, wo der Komponist Rossini und Wagner zitiert, zu hören wie zu erleben. Die Wiedergabe der letzten Symphonie von Schostakowitsch entlässt den aufmerksamen Hörer nachdenklich, ja betroffen, in einen kühlen Wiener Maiabend. Die vermeintliche Heiterkeit des ersten Satzes, der nach und nach in seiner lyrischen Kontemplativität zur verzierten Fratze wird – das Orchester spielt das einfach phänomenal – wirkt ebenso noch lange nach wie das unausweichlich nahende Ende des vierten Satzes: Andris Nelsons gelingt es, eine schwer desolate, ungewisse Spannung zu erzeugen und hinterlässt – mit und wie Schostakowitsch in diesem Werk – ein starkes, großes Fragezeichen. Auch an diesem ebenso beklemmenden Abend keine Zugabe, welche auch.