Nachdem das „musikalische Volksdrama“, wie Modest Mussorgski seine Oper CHOWANSCHTSCHINA bezeichnet hat, zuletzt in der Saison 1981/1982 in Genf gezeigt wurde, wagt man nunmehr eine Neuproduktion und hat Intendant Aviel Cahn am Grand Thèatre de Genève noch vor seinem Wechsel als Intendant an die Deutsche Oper Berlin mit der Umsetzung dieses Werkes wieder den spanischen Regisseur Calixto Bieito und den argentinischen Dirigenten Alejo Perez beauftragt. Das Stück stellt an Szene und Musik enorme Herausforderungen: der eigentliche Handlungsträger ist das russische Volk, die handelnden Figuren sind bedeutend als Vertreter bestimmter Volksgruppen, weniger als selbständig handelnde Charaktere, die beinahe archaische Musik folgt dem Duktus der russischen Folklore und soll der Vortrag im Einklang mit Rhythmus und Tonfall der russischen Sprache stehen.
Ungemein fein gespielt, in herrlichen Orchesterfarben schimmernd, löst sich bereits das Vorspiel, „Morgendämmerung über der Moskwa“, aus dem Graben – Dirigent Alejo Perez setzt mit dem in allen Gruppen wunderbar aufgestellten Orchestre de la Suisse Romande den ganzen Abend über auf eine edle, transparente Klangkultur, bewusst im Gegensatz zur ohnehin herben, schroffen Musik Mussorgskis. Was dem Besucher aus Wien auffällig ins Ohr sticht, ist die Tatsache, dass den SängerInnen ein Klangteppich sondergleichen bereitet, ja zelebriert wird, sodass die Stimmen immer im Vordergrund zu hören sind und sich unangestrengt sowie ohne jegliches Forcieren im Raum entfalten können. Derart kommt auch die ganze Schönheit der gesungenen russischen Sprache zur Geltung. Vielleicht hätte der Dirigent mehr auf dramatische Intensität setzen können, das Ergebnis ist jedoch beeindruckend, hört man Mussorgskis Partitur mit all‘ ihren kühnen Besonderheiten doch selten so farbenreich wie transparent aufbereitet und gelingt es Perez auch, die Spannung bis zum kontemplativen Schluss des beinahe dreidreiviertelstündigen Abends inklusive einer Pause zu halten. Die musikalische Umsetzung gerät intensiv, mit streckenweise atemberaubender Schönheit. Ebenfalls eine besonders starke Leistung ist dem Choeur des Grand Thèatre de Genève zu attestieren. Chordirektor Mark Biggins hat bei der Vorbereitung der zahlreichen, gewaltigen Chorszenen, auf denen das künstlerische Schwergewicht von CHOWANSCHTSCHINA liegt, hervorragende Arbeit geleistet, gerät dieser Chorgesang doch überaus plastisch wie differenziert, sodass die großen Chorszenen vollends den Intentionen Mussorgskis entsprechen.
Was die SängerInnen betrifft, sind sämtliche kleinen Rollen aus dem Hausensemble durchwegs sehr gut besetzt. Und sämtliche ProtagonistInnen erbringen exzellente stimmliche wie darstellerische Leistungen. Mit strahlend schmelzreichem Tenor debütiert Arnold Rutkowski als Fürst Andrej Chowansky, Dmitri Golovnin lässt einen betont prägnanten Charaktertenor als Prinz Vassili Golyzin vernehmen. Vladislav Sulimsky gibt mit ganz starkem Bariton den Bojaren Schaklowity. Mit großem, sattem Mezzosopran überwältigt Raehann Bryce-Davis bei ihrem Debüt als Marfa mit einem durch und durch beeindruckenden, starken Auftritt. Im Grunde ist es aber der Abend der beiden imposanten, mächtigen Bässe: Der charismatische, rohe Bass von Dmitry Ulyanov passt hervorragend zum Fürsten Ivan Chowansky, einen dämonisch fanatischen Dosifey verkörpert Taras Shtonda mit balsamisch eingefärbtem, abgründigem Bass.
Was die Handlung betrifft, stehen sich in CHOWANSCHTSCHINA drei gesellschaftlich politische Strömungen gegenüber – der Reformismus des Zarewitschs und späteren Zaren Peter I., des Großen, der Konservatismus der Bojaren und der Fanatismus der Altgläubigen. Seine Angewohnheiten, zu fordern, zu erschrecken und zu provozieren wird Regisseur Calixto Bieito niemals verlieren, dennoch hat er sich bei dieser Regiearbeit wohltuend zurückgenommen, kann seine Inszenierung von CHOWANSCHTSCINA doch keineswegs als radikal gelten. Aus der wunderbaren Musik, der er vertraut, entwickelt er das Stück, zeigt die Konfrontation zwischen Militär, Nationalismus und Fundamentalismus inklusive der Liebesgeschichte, interpretiert das naturgemäß modern als inneren Ablauf, kann man in der Person des Prinzen Golizyn Vladimir Putin erkennen und ist der selbstgewählte Flammentod der Altgläubigen eine Zugfahrt in den Gulag. Großartige Personenstudien gelingen Bieito mit einer zwingenden, psychologisch subtilen Zeichnung der Figuren in ihren jeweiligen Charakter- und Lebenswelten, sodass niemand im Zuschauerraum kühl oder distanziert dem Geschehen gegenübersteht. Was das Bühnenbild betrifft, sind da keine opulenten Installationen zu sehen: Rebecca Ringst verwendet eine bewegliche LED-Videowand, die für wechselnde Schauplätze sorgt und visuelle Botschaften einblendet. Die Kostüme von Ingo Krügler sind modern, teilweise mit archaischen Elementen versehen. Die Lichtregie von Michael Bauer beindruckt in ihrer Stimmigkeit, Sarah Derendinger sorgt für teilweise ästhetische Videos. Ob die hochpolitische Inszenierung Bieitos von Mussorgskis Volkepos nun das historische oder das gegenwärtige Russland seziert, mag jede/r im Publikum für sich selbst beantworten.
Wieder einmal ist in Genf, wo glücklicherweise die russische Kultur nicht verbannt, sondern deren Relevanz erkannt wird, ein langer, fordernder, letztlich aber ungemein beglückender Abend Musiktheater zu erleben.