Eine erwartete Sternstunde findet statt – Riccardo Muti am 200. Jahrestag der Uraufführung von Beethovens „Neunter“

Den beiden „Menschheitswerken“ Ludwig van Beethovens, der „Missa solemnis“ und der IX. Symphonie, hat sich Riccardo Muti, der in den Konzerten der Gesellschaft der Musikfreunde Wien seit 1974 auftritt und den eine besonders vertrauensvolle Arbeit mit den Wiener Philharmonikern bereits seit 1971 verbindet, erst spät gewidmet. Zum 200. Jahrestag der Uraufführung von Beethovens Symphonie Nr. 9 d-moll op. 125 dirigiert Muti, mittlerweile „der“ Grandeseigneur unter den besten lebenden Dirigenten, das kolossale Werk viermal im Großen Saal des Wiener Musikvereins – am Pult der Wiener Philharmoniker, gemeinsam mit dem von Johannes Prinz präparierten Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und ausgewählten SolistInnen, Julia Kleiter (Sopran), Marianne Crebassa (Mezzosopran), Michael Spyres (Tenor) und Günther Groissböck (Bass) – zweimal im Rahmen der philharmonischen Abonnementkonzerte sowie zweimal in Abonnementreihen des Musikvereins.

Und am Abend des 7. Mai 2024, dem Uraufführungstag, findet, und das ist allzu selten, eine erwartete musikalische Sternstunde tatsächlich statt. Der Singverein steuert ungemein differenzierten, prächtig schallenden wie ätherisch schwebenden Chorgesang – die Soprane sind den von Beethoven gesetzten, nahezu unsingbaren Höhen mehr als gewachsen – bei. Bei den SolistInnen sind ebenso keine Schwachstellen zu vernehmen: Sopran und Mezzosopran fügen sich harmonisch in das Gesamtkonzept ein, der Tenor ist ungemein höhensicher und gestaltet seinen schwierigen Part souverän, ebenso der klangvoll mächtige Bass. Das Orchester ist in allen Instrumentengruppen hervorragend disponiert, von den Solisten ragen Oboe, Klarinette und Flöte heraus, schmetternde Trompeten sind ebenso zu hören wie runde Hörner, besonders auffällig die hart und trocken wie überaus akzentuiert geschlagene Pauke, die mitunter das Klangbild sogar dominiert.

Ihresgleichen sucht aber die durch und durch gewachsene, reife, enorm reiche wie tiefe Interpretation des am 7. Mai 1824 im Kärntnertortheater uraufgeführten Werkes, dem sein Schöpfer in völliger Taubheit beiwohnte, durch einen ungemein vital wirkenden Riccardo Muti, der, was die Gestaltung dieses ungeheuren Riesenwerkes betrifft, nunmehr Sphären von Allzeitgrößen wie Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan erreicht hat. Souveränität, Ruhe und Gesanglichkeit: Mit diesen drei Nomen lässt sich das Ereignis beschreiben. Sämtliche Tempi sind organisch, stehen in wunderbarer Relation zueinander, wirken einfach „richtig“, was durch eine Aufführungsdauer von ungefähr 75 Minuten unterstrichen wird. Mutis großartiges Dirigat ist nicht verhetzt, nicht durchgepeitscht, sondern von innerer Dramatik und Wucht geprägt, Beethovens bebende Tremoli und wachsende Crescendi steigert er bis zum Äußersten, die Spannungsbögen sind von bebender, berstender Intensität, ein Wunder der langsame, dritte Satz, wo Muti die Zeit stillstehen lässt. Die Orchestercoda nach Schillers Ode „An die Freude“ geht nahtlos über in nicht enden wollenden Publikumsjubel, der seinen Höhepunkt erreicht, wenn die Wiener Philharmoniker einen ihrer Lieblingsdirigenten allein ans Pult bitten.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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