Der ungarische Komponist Emmerich Kàlmàn, geboren als Imre Koppstein, gemeinsam mit Franz Lehàr, Oscar Straus, Edmund Eysler, Robert Stolz, Nico Dostal und Rudolf Kattnigg einer der Vertreter der „Silbernen Operettenära“, schrieb seine Operetten vornehmlich in deutscher Sprache – so auch sein erfolgreichstes Werk, DIE CSÀRDÀSFÜRSTIN, uraufgeführt im November 1915 im Johann-Strauß-Theater in Wien, mit dem Text von Leo Stein und Bela Jenbach, worin ihre Schöpfer tiefgehende Gedanken über den I. Weltkrieg und das drohende Ende der Donaumonarchie anstellen. Die letzte Neuinszenierung des ungemein beliebten Stückes an der Wiener Volksoper, die wie kaum ein anderes Haus mit der großen Wiener Operettentradition verbunden ist, gab’s im Herbst 2018 – Grund genug für Intendantin Lotte de Beer, eine nicht alltägliche Neuproduktion von Kàlmàns Meisteroperette zu wagen.
Kálmáns farbenreiche Partitur zeichnet sich durch zündende Melodien, packende dramatische Akzente und mitreißendem rhythmischem Elan aus – ein temperamentvolles Werk, das allerdings oft auch schwermütig-melancholisch, sogar schmerzlich klingt. Der junge Dirigent Tobias Wögerer, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Musiktheaterpreis, setzt am Pult des sehr gut aufgestellten Orchesters der Wiener Volksoper, welches er nur hin und wieder zu leiserem Spiel animieren sollte, auf die langsam wehmütigen Akzente und steht damit im Einklang mit Eraths Inszenierung, die ihrerseits einen Kontrast zur betont schwungvollen Musik Kàlmàns darstellt. Als musikalische Einlagen sind immer wieder „Lontano“ für großes Orchester von György Ligeti zu hören, auch ein Ausschnitt aus einer älteren Aufnahme des Duetthits „Tanzen möcht‘ ich“ mit Kurt Schreibmayer und Mirjana Irosch – und diese Stimmen darf man leider, was die aktuelle Besetzung, vor allem der beiden Hauptrollen betrifft, in der dritten Aufführung der aktuellen Premierenserie am 19. März 2025 nicht als Maßstab heranziehen.
Als Sylva Varescu überzeugt darstellerisch und gestalterisch eine attraktive Annette Dasch vollends mit ihrer Studie der tragisch liebenden, am Ende – vielleicht, in dieser Inszenierung ist das nicht so sicher – doch noch glücklich werdenden Chansonette, stimmlich wie gesanglich kann sie diesbezüglich bedauerlicherweise an diesem Abend nicht überzeugen. Alexandre Beuchat als ihr Edwin verfügt zwar über einigen Schmelz in seinem hellen Bariton, bleibt aber stimmlich dann doch wieder allzu blass. Ein Meisterstück an Komödiantik, beinahe etwas zu viel des Guten, liefert Jakob Semotan als Bonifaz, niedlich gerät das Rollendebüt am Haus von Theresa Dax als Anastasia. Kurt Schreibmayer, Primas der fünf (!) – im Sinne der surrealistisch dekonstruktiven Wahrnehmung des Regisseurs – Darsteller des Feri Bacsi lässt zwischendurch hören, welch‘ famoser Operettentenor er doch einmal war. Überzeugend als Fürstenpaar Lippert-Weylersheim agieren Burgschauspieler Roland Koch und Sopranistin Regula Rosin.
Vor vielen Jahren im Orchester der Wiener Volksoper als Violinist tätig, kehrt der heute sehr gefragte Musiktheaterregisseur Johannes Erath an das Haus zurück, um diesen Operettenklassiker, worin die Zeitenwende bereits deutlich spürbar ist, zu inszenieren und dabei ernsthaft über eine Welt im Umbruch zu reflektieren – ausgehend vom Refrain eines der bekanntesten Musiknummern des Werkes „Weißt du, wie lange noch der Globus sich dreht, ob es morgen nicht schon zu spät?“ Und wie man es von ihm mittlerweile gewohnt ist, zeigt Erath eine ungemein surreale, bildgewaltige, im Ergebnis sehr gelungene Inszenierung. „Die Musik beginnt, wo der Schmerz nicht mehr ertragbar ist.“, bekennt Erath im Vorfeld der Premiere, und diesen Gesichtspunkt arbeitet er mit seiner Regiearbeit auch betont heraus. Dabei wird er überzeugend von Bernhard Hammer (Bühnenbild), Gesine Völlm (Kostüme), Miles Hoare (Choreografie), Nicol Hungsberg (Licht) und Bibi Abel (Video) unterstützt. Die Umsetzung dieses Stückes des Abschiednehmens, das gleichzeitig ein Plädoyer dafür darstellt, im Jetzt zu leben und auch eine Geschichte der Generationen ist, erfolgt in zwingenden Bildern, ergänzt von einer bisweilen abgründig psychologischen Personenregie wie strengen Personenführung. Mit seiner Regiearbeit stellt sich Erath die Fragen: „Warum brauchen wir das Theater noch, wenn die Welt zu versinken droht? Warum wird uns der Wert der Dinge immer erst bewusst, wenn wir sie verloren haben? Gelingt es, einen Theaterabend zu erfinden, an dem sich jede Seele im Publikum verzaubern lässt?“ Diese Aspekte beantwortet er mit seiner Inszenierung, indem er die Zeit langsamer laufen lässt, szenisch verbreitert – bewusst auf Kosten des szenischen Flusses: das Zeitmaß in diesem Stück über die Liebe und des Nicht-Füreinander-Einstehen-Könnens bestimmt der Herzschlag. Diese Deutung der „Csàrdàsfürstin“ gleicht einem Tanz auf dem Vulkan mit Pulverdampf statt Varietèluft. Dass manche im Publikum andere Vorstellungen von klassischer Operette haben und diese auch sehen möchten, muss man akzeptieren, das vielfach dahinmodernde Genre wird aber gerade durch solche, gewiss gewagten, Regiearbeiten neu belebt, um überhaupt in unserer Zeit überleben zu können, und wirkt bei genauem Hinsehen schließlich wenig verstörend.
Insgesamt ist an der Wiener Volksoper polarisierend aufwühlende, silberne Operette zwischen Ausgelassenheit und Melancholie zu erleben. Diesen angstvoll nostalgischen Traum einer Welt von gestern – auf der Suche nach der verlorenen Zeit? – sollte man gesehen haben.