SCHOSTAKOWITSCH FESTIVAL LEIPZIG 2025

Schostakowitsch Festival Leipzig 2025

Eine kurze Auszeit führt SIMPLY CLASSIC – zum ersten Mal überhaupt – nach Leipzig, wo zum 50. Todestag von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch (1906 – 1975) ein Megafestival veranstaltet wird und ein Großteil seiner Werke – u. a. sämtliche Symphonien, Instrumentalkonzerte und Streichquartette – zur Aufführung gelangt. Eine Herausforderung sondergleichen für InterpretInnen wie Publikum, ist doch in den Kompositionen Schostakowitsch‘ eine latent bedrohliche Spannung allgegenwärtig und spricht diese ungeheuerliche, existenzielle Musik die Menschen immer direkt an, zudem aktualisiert mittlerweile das Zunehmen autoritärer Regime auf der Welt seine Musik auf erschreckende Weise.  

Um es gleich vorwegzunehmen: Das uneingeschränkt bestens aufgestellte Gewandhausorchester, gekennzeichnet durch seinen typisch mitteleuropäischen Klang, wo die Bläser in die dunklen Streicher eingebettet sind, beeindruckt an beiden Abenden mit einer phänomenalen Klang- und Orchesterkultur und einer nie nachlassenden Intensität des Musizierens. Der charakteristische Klang dieses Spitzenorchesters macht eine ungemein differenzierte Ausdrucksvielfalt, die zusätzlich die Vielschichtigkeit von Schostakowitsch‘ Partituren deutlich betont, möglich. Und Andris Nelsons, der 21. amtierende Gewandhauskapellmeister, spürt in seiner Interpretation Charakter und Wesen von Schostakowitsch‘ Musik mit enormem Tiefgang förmlich auf den Grund.

 

1) GEWANDHAUS

Am 28. Mai 2025 ist im Großen Saal des Gewandhauses ein eindrucksvolles, ja ergreifendes Konzert zu erleben, das man als aufmerksamer Hörer nach zweieinhalb Stunden förmlich erschlagen, nahezu mitgenommen verlässt. Das Gewandhausorchester spielt unter Andris Nelsons, verstärkt von den Herren des MDR-Rundfunkchores (Einstudierung: Pavel Brochin), des Chores der Oper Leipzig (Einstudierung: Thomas Eitler-de Lint) und des Gewandhauschores (Einstudierung: Gregor Meyer), der Violinistin Baiba Skride, des Bassisten Günther Groissböck – sowie des Gewandhausorganisten Michael Schönheit, der zu Beginn an der mächtig schallenden Orgel des Gewandhauses die Passacaglia aus der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ op. 29 von Schostakowitsch in der Fassung für Orgel zum Besten gibt.

Vor der Pause erklingt dann noch das Violinkonzert Nr. 2 cis-moll op. 129 aus Schostakowitsch‘ Feder – David Oistrach gewidmet und von ihm mit Kirill Kondrashin im September 1967 uraufgeführt, das letzte Instrumentalkonzert des Komponisten. Dieses Werk geht, charakteristisch für die späte Schaffensphase von Schostakowitsch, in der Abkehr vom Virtuosen und Rhapsodischen noch einen Schritt weiter. Der Solopart darin stellt quasi eine seelenvolle Arie ohne Worte dar, es dominiert eine bedrohliche Einsamkeit, ja schmerzvolle Verlassenheit. Und ist dieses Werk bei Baiba Skride in ausgezeichneten Händen. Ihr mit großem Druck auf den Bogen ausgeführtes Spiel auf ihrer Stradivari „Yfrah Neaman“ erzeugt einen vollen, saftigen Klang, entspricht voll dem Charakter des auf den ersten Eindruck vielleicht etwas sperrigen Werkes. Bei genauem Hinhören entdeckt man in ihrer Interpretation aber den musikalisch breiten Ansatz des Werkes, die Elegie des ersten Satzes, besonders den ergreifend lyrischen Gesang des Mittelsatzes und den geistreichen Witz des grotesk abgründigen Final-Rondos, wo die Solistin ihr Instrument werkimmanent richtig traktiert und in ein atemberaubendes Konzertieren mit dem, was Holz, Blech und Schlagwerk betrifft, nicht groß besetzten Orchester tritt. Solistin, Dirigent und Orchester provozieren mit der spannungsgeladenen Wiedergabe heftigen Applaus, eine Zugabe gibt es nicht.

Der russische Dichter und Schriftsteller Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko (1932 – 2017) prangert in seinen Texten hart die regierenden Kreise in der sowjetischen Gesellschaft sowie den weitreichenden Antisemitismus und dessen Verdrängung an: In einem seiner größten, erschütterndsten Werke überhaupt, der Symphonie Nr. 13 b-moll op. 113 „Babi Jar“, ebenfalls von Kondrashin im Dezember 1962 uraufgeführt, aufgenommen mit einer gewaltigen Ovation, die nach der Pause aufgeführt wird, vertont Schostakowitsch Texte dieses Protestdichters und setzt sie in verstörend bewegende wie abgründig dämonische Klänge.

Stellen die Gedichte der – satirisch grotesken – Sätze zwei bis fünf (Humor. Allegretto, Im Laden. Adagio, Ängste. Largo, Eine Karriere. Allegretto) eigene Aspekte des Lebens in der Sowjetunion dar, behandelt der erste, ungemein bedrückende Satz (Babi Jar. Adagio), der dem Werk seinen Namen gibt, das Massaker der Nationalsozialisten an überwiegend ukrainischen Juden 1941 in Babi Jar, der „Weiberschlucht“, in einem Tal nahe Kiew. Andris Nelsons, sein Orchester mit seinem dunklen, doch klaren, bassfundamental harrenden Klang, die für ihre Aufgabe hervorragend präparierten Männerchöre und der bassstarke, sehr eindringliche Günther Groissböck interpretieren diese gewaltige Musik markerschütternd, vernichtend, schockierend, sprachlos, unmittelbar ins Herz zielend und treffend. Ein berührendes Erlebnis, diese Interpretation fördert die Essenz dieser Musik zu Tage.  

Am Schluss des im Grunde hoffnungslosen Werkes dann Frieden: Und nach den fulminanten Soli von Bassklarinette, Violine und Viola, den Klängen von Celesta und Harfe, und, wie zum Beginn, dem Glockenschlag – beginnt und endet das Werk mit einer Totenglocke? – nicht mehr von dieser Welt wiedergegeben, gefühlte unendliche, vollkommene Stille, die man vermeint zu hören, bevor tosender Applaus im Auditorium aufbrandet. Das Gewandhaus verlässt man in die letzten Strahlen der Abendsonne, die einen regnerisch durchwachsenen Tag in Leipzig beschließen, und es mag da so etwas wie Hoffnung aufkommen …

 

2) OPER

Tags darauf, am 29. Mai 2025, steht auf der anderen Seite des Leipziger Augustusplatzes in der Oper Leipzig „Lady Macbeth von Mzensk“, die Oper in vier Akten und neun Bildern, mit der Musik von Schostakowitsch, dem Libretto von Alexander G. Preis und vom Komponisten nach der gleichnamigen Erzählung von Nikolaj S. Leskow, auf dem Programm – ein Werk, worüber Mariss Jansons, bei dem Andris Nelsons im Rahmen seiner Ausbildung Privatunterricht genommen hatte, schwärmte: „Das ist eine fantastische, geniale Musik. Sie lässt niemanden gleichgültig.“ Das elend trostlose, 1934 uraufgeführte Stück handelt von der unterdrückten wie vernachlässigten Kaufmannsgattin Katerina Lwowna Ismailowa, die, ähnlich getrieben wie William Shakespeares Lady Macbeth in dessen Tragödie „Macbeth“, zur dreifachen Mörderin wird. Spürt man dem Werk auf den Grund, geht es in erster Linie um die Haut, die Seele, die nach Berührung schreit, vor allem um die Frau, die sowohl nach sexueller Erfüllung als nach Lebenserfüllung durch Liebe und ein Kind giert.

Der herausragende Eindruck, welchen das Gewandhausorchester und sein amtierender Gewandhauskapellmeister – welch‘ unglaubliche Leistung vollbringt Andris Nelsons doch im Rahmen des Festivals im Hinblick auf Quantität wie Qualität seiner Dirigate – am Vorabend im Gewandhaus hinterlassen haben, setzt sich in der Oper nahtlos fort. Das in allen Positionen erstklassig besetzte, blendend disponierte Orchester plus geteilter Blaskapelle aus beiden Logen zieht unter seiner souveränen Stabführung alle Register, indem es weint, schreit, stampft, hämmert, kracht, knirscht, keucht, stöhnt, bohrt, bisweilen knapp unter dem akustischen Schmerzpegel, um im nächsten Moment wieder so unendlich zart, beinahe unhörbar, zu artikulieren, wie man es selten zu hören bekommt. Rohe Gewalt neben sinnlichem Glanz, ganz der kontrastreichen Partitur entsprechend, wird derart famos vermittelt. Den Duktus und die idiomatische Stimmung dieser Musik trifft Nelsons auf den Punkt, als möchte er dem Publikum vermitteln, es müsse Katerina nicht verzeihen, aber ihr Handeln verstehen. Andris Nelsons ist mittlerweile zu einem allerersten Dirigenten gereift: empathischer kann man kaum Musik machen: Von Katharinas immenser Einsamkeit der ersten Szene – „Ach ich kann nicht mehr schlafen … eine Trostlosigkeit, dass man sich erhängen könnte …“ – bis vor ihrem Selbstmord, wo dieselbe Stimmung wiederkehrt, – „Im Wald, tief im Dickicht, gibt es einen See, ganz rund und sehr tief, und sein Wasser ist schwarz, so wie mein Gewissen, schwer.“ – formt er am Pult einen nie nachlassenden Spannungsbogen. Und man hört in dieser Interpretation wirklich diese permanent bedrohliche, latente Angst, für sein Handeln entdeckt zu werden, was dreieinhalb Stunden lang unter die Haut zu gehen scheint – und das Gefühl vorwegnimmt, das den Komponisten selbst befallen hat, als er zwei Jahre nach Uraufführung der „Lady“ während des Stalinismus in Ungnade gefallen ist.

Der Chor und der Zusatzchor der Oper Leipzig wurden von Thomas Eitler-de Lint einstudiert und präsentiert feinen, differenzierten Chorgesang, von zart leise bis hin zu mächtigen chorischen Ausbrüchen. Was die stimmlichen Leistungen der SängerInnen in den Hauptrollen betrifft, darf sich das Publikum in dieser Vorstellung über exzellente Kräfte freuen. Eine gelungene Charakterstudie von einem impotenten, schwachen, versoffenen Kaufmann Sinowij Borissowitsch Ismailov gelingt mit betont greinendem, bewusst blassen Spieltenor Matthias Stier. Dem immer noch potenten, geil aufgeblasenen, niederträchtigen alten Kaufmann Boris Timofejewitsch Ismailov stattet Dmitry Belosselskiy mit sattem, bedrohlich tönendem Bass aus. Pavel Cernoch gestaltet einen mit seiner Potenz protzenden, brutalen Sergej; sein betont aufgeblasener, zuweilen schmelzreicher, penetrant durchschlagskräftig klingender Tenor passt wunderbar zu dieser unsympathischen Rolle. Sehr gelungen auch das starke, intensive Rollenporträt von Kristine Opolais in der Titelpartie. Gewiss, die hohen Töne müssen unentwegt erkämpft werden, vor allem vor der Pause, im zweiten Teil gelingt dies der Sängerin dann besser; aber welcher Ausdruck, welches Gefühl schwingt in ihrer Rollengestaltung mit. Und dort, wo sie ihre Sopranstimme so richtig in der Mittellage strömen lassen kann, blüht die Stimme zuweilen auch förmlich auf. Kristine Opolais durchlebt und durchleidet bewegend die Partie der Lady Macbeth aus dem russischen Landkreis Mzensk.

Man fühlt mit dieser Katharina mit. Die Morde im zweiten Akt geschehen aus Überlebenstrieb, wurde ihr doch in dieser patriarchalischen Hölle, in der sie dahinvegetiert, alles verwehrt, Geborgenheit, Sexualität, Mutterschaft. Die Herzlosigkeit und Brutalität ihrer Rivalin gegenüber im vierten Akt ist allerdings nicht nachvollziehbar: „Ich widmete Lady Macbeth meiner Braut, meiner zukünftigen Frau. Versteht sich, dass die Oper auch von Liebe handelt, aber nicht nur. Sie handelt auch davon, wie Liebe sein könnte, wenn nicht ringsum Schlechtigkeit herrschte. An diesen Schlechtigkeiten ringsum geht die Liebe zugrunde. An den Gesetzen, am Besitzdenken, an der Geldgier, an der Polizeimaschinerie. Wären die Verhältnisse anders, wäre auch die Liebe eine andere.“ (Dmitri Schostakowitsch). „Lady Macbeth von Mzensk“, dieses im Grunde ebenso hoffnungslose Stück, wird von Regisseur Francisco Negrin an einem zeitlosen, an eine permanent gegenwärtige Fabrik erinnernden Ort angesiedelt. Personenregie und Personenführung geraten einfach, deutlich, drastisch. Das Bühnenbild stammt von Rifail Ajdarpasic, im Zentrum steht ein im Verlauf der Handlung nach und nach zerbrechendes „Fabergè-Ei“, ein russisches, historisch stark aufgeladenes Symbol. Die Allegorie als Stilmittel der Inszenierung ist auch Stilmittel für die Kostüme von Ariane Isabell Unfried, die ebenso wenig realistisch, noch eindeutig zeitlich gebunden sind. Diese Inszenierung, im Grunde eine symbolhafte Collage, worin alle dem Untergang geweiht sind, ist aus Text und vor allem der Musik eindrucksvoll entwickelt – und deshalb ganz nahe an Schostakowitsch‘ Werk.

Am Schluss gibt es für eine rundum geglückte Aufführung lautstarken Jubel für alle vom Leipziger Publikum, vor allem für Kristine Opolais und Andris Nelsons, der an diesem Abend zum ersten Mal überhaupt sein Gewandhausorchester im Graben der Leipziger Oper dirigiert hat.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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