Genie und Rebell: Kaum einer hat so gespielt wie er – die neue Friedrich Gulda Edition, erschienen bei der DGG

Friedrich Gulda Edition, erschienen bei DGG. Die kompletten Einspielungen des großen österreichischen Pianisten bei den Labels Deutsche Grammophon, Amadeo, Decca, Philips und Accord.

Friedrich Gulda (1930–2000) begann das Klavierspiel im Alter von sieben Jahren. Ausgebildet wurde er bei Bruno Seidlhofer (Klavier) und Joseph Marx (Musiktheorie und Komposition) in Wien, mit sechzehn Jahren gewann er den Concours de Geneve, mit zwanzig debütierte er in der Carnegie-Hall in New York, erlangte danach rasch Weltruhm. Sein Grabstein trägt die schöne Inschrift:

Wollt ihr mit mir fliegen schweben, lasst im Takt die Erde beben“.

Mit seinem unglaublichen Klavierspiel und fabelhaften Interpretationen hat er gewiss die Erde beben lassen, obwohl ihm titanenhaftes Auftrumpfen und entfesselte Klanggewalten stets fremd waren. Sein Spiel bleibt stets analytisch-transparent und gleichzeitig auch immer beredt, fesselnd und ausdrucksvoll. Wenn Beethoven beispielsweise in den späten Sonaten molto espressivo notiert, spielt er das auch so, klingt das auch so, ohne jegliche Verzärtelung. Charakteristisch für ihn ist ein äußerst präzises und rhythmisch akzentuiertes Spiel.

Neben seinem über den Maßen zwingenden, expressiven Klavierspiel hatte er ein hervorragendes Gedächtnis: er brauchte sich zum Beispiel den Notentext eines Werkes nur wenige Minuten lang anzuschauen, um das Werk dann auswendig zu spielen.

Ausschließlich auf klassische Musik festlegen ließ er sich nicht, womit er sich nicht nur Freunde gemacht hat. In seiner Brust wohnten viele Musikerseelen: er öffnete sich dem Jazz, der freien experimentellen Musik und komponierte eigene, scharfsinnige wie originelle Werke, weil ihm „die bloße Nachschöpfung von Werken vergangener Epochen“, wie er selbst bemerkte, nicht genug war.

Kaum ein anderer Pianist war so vielseitig begabt wie er: sein Repertoire reichte von Bach, Mozart und Beethoven über Schubert, Chopin, Schumann, Debussy und Ravel bis zu Strauss und Prokofieff.

Eine umfangreiche neue Edition präsentiert nun Friedrich Guldas sämtliche „Recordings on Deutsche Grammophon, Amadeo, Decca, Philips und Accord“.

Auf 84 CDs und einer DVD erscheinen zum ersten Mal seine gesammelten Aufnahmen dieser Labels in einer Box mit Original-Covern, was fünfzig Jahre Aufnahmegeschichte erleben lässt: von den Einspielungen des Siebzehnjährigen aus den Londoner Decca-Studios bis zu den 1999 am österreichischen Attersee entstandenen Mozart-Aufnahmen des beinahe Siebzigjährigen. Neben zahlreichen CD-Premieren findet sich auch die Erstveröffentlichung einer verschollen geglaubten Bach-Toccata aus dem Jahr 1947. Zwei Gesamtzyklen der Beethoven-Sonaten (1950-1958, 1967) sowie zwei Gesamtaufnahmen der Preludes von Debussy (1955, 1967) laden zu einem spannenden Hörvergleich ein. Die hochwertige Box wird von einem ausführlichen Booklet mit Essays von Gulda-Biografin Irene Suchy und Reinhard Brembeck, zahlreichen Fotos sowie einer DVD – „So What?! Friedrich Gulda Portrait“ vervollständigt.

Gulda war sein Leben lang dafür bekannt, dass er absolut exakt und werkgetreu die Kompositionen der beiden Klassik-Legenden Mozart und Beethoven am Klavier wiedergeben konnte, seine äußerst exakten, um besondere Werktreue bemühten Interpretationen dieser beiden Komponisten gelten bis heute als Meilensteine in der Interpretationsgeschichte, für viele galt er als der wohl größte Mozart- und Beethoven-Interpret überhaupt in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Aufsehen erregte auch seine Interpretation des Wohltemperierten Klaviers von Bach.

Was die einzelnen Aufnahmen betrifft, sollen ein paar herausgegriffen werden:

Im Hinblick auf das Außergewöhnliche, was seine Beethoven-Interpretation ausmacht, sei auszugsweise Joachim Kaiser zitiert, der für den SPIEGEL 1968 die Gesamteinspielung Guldas der Klaviersonaten für das Label Amadeo rezensierte:

„ … Freilich: Kein Pianist kann Beethoven ganz gewachsen sein. Das hängt nicht mit den Grenzen auch der großen Pianisten unserer Zeit zusammen, sondern vielmehr mit der immer wieder in neuem Licht sich darbietenden Grenzenlosigkeit der Werke. … Guldas Ratlosigkeit, sein sympathischer Zweifel am etablierten Kulturgut, seine vom Jazz geförderte frische motorische Leidenschaft sind in seine Beethoven-Interpretation eingegangen und haben ihr eine manchmal wahrhaft atemberaubende Gespanntheit vermittelt. Wie spielt er? Ausgesprochen maskulin, kraftvoll, bestimmt, entschieden große Zusammenhänge geraten ihm wie aus einem Guss, werden überschaubar, einfach. Auch im entfesselten Tempo erlaubt er sich keine Undeutlichkeit. Nie wühlt die linke Hand nur so herum, müht die Rechte sich ungenügend ab. Sein manuelles Vermögen ist außerordentlich. … Er übersieht genau, was er kann. Darum vermag er die Dreistimmigkeit des üblichen Sonatensatzes mit bestechender Lebendigkeit zu fixieren. Die Mittelstimme verwischt sich nicht, die Basslinie hat Kontur, die Oberstimme dominiert auf sinnvolle Weise. … Er akzentuiert jedes Sforzato, jedes Crescendo, phrasiert durchdacht und genau. Aber auf seinen Interpretationen liegt manchmal ein kaltes Licht. Jähe, gespannte Akzente fallen auf eiserne, metrisch durchorganisierte Vorläufe. Alles pompös Aufgedonnerte fehlt. Das heißt: nicht nur haben die Themen, wenn sie nach der Durchführung oder in der Coda wiederkehren, kein hörbares »Schicksal«, sondern der ständig von Improvisations-Freiheit schwärmende Friedrich Gulda versagt sich merkwürdigerweise beim Beethoven-Spiel eben diese Freiheit. Es muss ungeheure Konzentration dazugehören, sich dem natürlichen oder empfindsamen Fluss von Musik so zu versperren. … So rationalisiert Gulda die großen, fast wahnwitzigen Entladungen der Hammerklavier-Sonate in vollkommen übersichtliche Klaviervorgänge, so „funktioniert“ er die langsamen Sätze manchmal zu einem klangschönen Linienspiel um. Das Niveau, auf dem seine Interpretationen sich vollziehen, ist freilich so hoch, die Ergebnisse sind oft so überraschend und bewusstseinsverändernd, dass kein musikalischer Mensch es sich leisten darf, auf Guldas Amadeo-Einspielungen zu verzichten. … Und, es wirkt immer wie ein Wunder: Manchmal löst sich Guldas rhythmische Strenge. … Aber die überlegene Ruhe … macht ein selbständiges, in vielen Fällen auch selbstverständliches Interpretations-Ideal erkennbar, das Gulda sich und uns gewonnen hat.“

Ein wahres Kleinod sind auch die in einem Hotel im Salzkammergut entstandenen, lange verschollen und dann posthum bei der DGG herausgekommenen „Mozart-Tapes“. Gulda spielt hier wunderbar erfrischende Mozart-Sonaten, flüssig, akzentuiert, leidenschaftlich, nie süßlich, mit kraftvollem Ton, nahezu berauschenden Klangfarben. Die trockenen Aufnahmen klingen dabei ungemein unmittelbar, schnörkellos.

Für die DGG aufgenommen hat er auch vier Klavierkonzerte – Nr. 20 d-moll KV 466, Nr. 21 C-Dur KV 467, Nr. 25 C-Dur KV 503 und Nr. 27. B-Dur KV 595 – von Mozart mit den Wiener Philharmonikern unter Claudio Abbado. Diese Einspielungen sind wohl bis heute unübertroffen, können als Referenzeinspielungen angesehen werden und zeichnen sich durch besondere Authentizität, Kraft, Musizierlust, Rhythmik und Vitalität aus.

Die Einspielung der beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers von Bach verbindet Geist und Emotion. Für die Aufnahme wurden die Mikrophone ganz nahe an den Klaviersaiten platziert, was den HörerInnen jede Möglichkeit der Distanzierung von Bachs Musik nimmt, förmlich in das Werk hineinwirft. Das Instrument selbst wird zum Stereo-Raum, die extreme Dynamik lässt ein weites Spektrum an Emotionen zu. Guldas faszinierendes Spiel dazu von delikater Intimität bis zu ungebremster Extrovertiertheit schafft eine zusätzliche Dimension, subtil wie gleichsam eruptiv.

Bei der Zuwendung Guldas zum Impressionisten Debussy besticht vor allem seine phänomenale Anschlagskultur, fantasievolle Musikalität und sein pianistischer Tonfall, mit denen er sich den Preludes, Heft 1 und 2, des französischen Komponisten nähert: poetischer Klangzauber vom Feinsten.

Den unendlichen Kosmos von Schuberts Klaviermusik hat er sich und dem Publikum äußerst wenig gegönnt. Was er auch für ein ausgezeichneter Schubert-Spieler war bzw. gewesen wäre, davon zeugt eine Aufnahme der Sonate a-moll D 845. Harsches, schroffes, kantiges Spiel, nicht weit von Svjatoslav Richter entfernt, aber  ohne die eisige Kälte des ehernen Monolithen, in den Sätzen eins, drei und vier, im zweiten Satz und im Trio des dritten dann unendliche Legatobögen über die Taktstriche hinweg, sanfter, wunderschöner Gesang des Klaviers.

Interessante, spannende, immer weit über Gewohntes hinausgehende Interpretationen, die ich noch erwähnen möchte, betreffen Beethovens Diabelli-Variationen und die kompletten Sonaten für Violoncello und Klavier mit Pierre Fournier, die Preludes und Balladen von Chopin, Schumanns Klavierkonzert, sowie – von Richard Strauss –  die Burleske für Klavier und Orchester sowie eine Auswahl von Liedern, wo Gulda Hilde Güden begleitet.

Bedauerlicherweise nicht ganz auf der interpretatorischen Höhe der erwähnten Einspielungen ist die Gesamtaufnahme der fünf Beethoven-Klavierkonzerte mit den Wiener Philharmonikern, was aber nicht an der kraftvollen Pianistik Guldas liegt, sondern am allzu behäbigen Dirigat von Horst Stein.

Schmerzlich vermisst man einige für andere Labels entstandene Aufnahmen Guldas: von Mozart zwei Klavierkonzerte – Nr. 23 A-Dur KV 488 und Nr. 26 D-Dur KV 537 – und das Konzert für zwei Klaviere und Orchester Es-Dur KV 365 mit Chick Corea, alle mit Nikolaus Harnoncourt und dem Concertgebouw Orkest Amsterdam als Partner, Referenzeinspielungen auch diese. Und auch eine dritte Gesamtaufnahme der Sonaten (Aufnahmen des Österreichischen Rundfunks 1957), dazu der Sechs Bagatellen, der Eroica- und der Diabelli-Variationen (Originalaufnahmen der RAVAG Wien 1953/54) von Beethoven, die einen früh vollendeten Musiker in Höchstform präsentieren – und ebenso wie die drei Mozart-Konzerte aus rechtlichen Gründen leider nicht Eingang in diese, nebenbei erwähnt, auch toll editierte DGG-Box finden haben können.

Gäbe es heute mehr Künstler, denen es im Grunde nur um die Musik geht, mögen sie auch unkonventionelle Außenseiter wie das „enfant terrible“ Gulda sein, hätte die Kunstform E-Musik nicht nur mehr InterpretInnen mit Rockstar-Kultstatus, wie Chopin oder Liszt zu ihrer Zeit, sondern würde diese Kunstform auch nicht so stark ersticken, dass die Gefahr besteht, dass das Publikum dafür langsam, aber sicher mehr und mehr verschwindet.

Wer meisterliches, künstlerisch vielseitiges Klavierspiel eines einmaligen Charismatikers mit allen Ecken und Kanten schätzt, sollte bei dieser Box zugreifen: Friedrich Gulda Edition – Recordings on Deutsche Grammophon, Amadeo, Decca, Philips, Accord. DGG, Artikelnummer 518196000.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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