Ein ganz Großer am Klavier ist nicht mehr: Zum Tod von ALFRED BRENDEL – Ein etwas anderer Nachruf

Alfred Brendel (1931-2025) © br-klassik

„… Betrachten wir zunächst die Sonate op. 110 (Anmerkung: Ludwig van Beethoven: Klaviersonate Nr. 31 As-Dur). Hier bilden Arioso dolente und Fuge eine Einheit, die, einen Halbton tiefer, in der „Ermatteten Klage“ und der Umkehrung der Fuge, auf einer anderen Ebene ihre Entsprechung findet. Durch das Absinken des Arioso von as nach g ist die Ermattung ebenso ausgedrückt wie durch den kurzen, stoßweisen Atem des Klagenden, der nicht mehr die Kraft aufbringt, längere melodische Phrasen zu spannen. Wir werden an den Rand des Todes geführt und erleben nun „das Wiedererwachen des Herzschlages“ (Edwin Fischer) auf dem Crescendo der wiederholten G-Dur-Akkorde. L’istesso tempo della Fuga poi a poi di nuovo vivente lesen wir über der Inversion der Fuge. Herausgeber dieser Sonate haben das verschieden gedeutet: Die einen bezogen dies auf das Tempo der Fuge, die anderen auf die Dynamik des Vortrags. In meinen Augen lenken diese Worte die Aufmerksamkeit auf den kompositorischen Vorgang: Von hier bis zum Schluss des Werkes ist nämlich die Fuge als eine einzige fortschreitende Verkürzung konstruiert, die das allmähliche Wiederaufleben formal ausdrückt. Und noch etwas anderes geschieht: Mit dem Fortschreiten der Verkürzung wird Polyphonie in Homophonie übergeführt. Vincent d’Indy nannte die Fuge von op. 110 eine „Willensanstrengung zur Vertreibung des Leidens“. …“

„… Neben dem Zart-Feierlichen ist es das Verstörende, Bedrohliche, Delierende, das der späten Musik Schuberts ihr Siegel aufdrückt. In den letzten Sonaten (Anmerkung: Franz Schubert: Klaviersonaten c-moll D 959, A-Dur D 959 und B-Dur D 960) wird der klassizistische Anteil durch Alpträume nahezu gesprengt, durch Delirien von innen ausgehöhlt, durch Verstörung in Frage gestellt. Nicht Leidenschaft, Gewitterstürme, die Hitze eines Kampfes oder die Heftigkeit heroischer Anstrengungen teilen sich dann mit, sondern Verdunkelungen des Bewusstseins durch Fieber und Wahn. …“

Diese Ausführungen stammen aus dem Buch ÜBER MUSIK. Sämtliche Essays und Reden, von Alfred Brendel, erschienen im Piper Verlag. Da hat Einer inhaltlich ganz tief über Musik nachgedacht, nicht umsonst galt der am 5. Januar 1931 in Wiesenberg, Nordmähren geborene Pianist als Denker bzw. Philosoph unter den Pianisten. Mit ähnlich fundiertem Intellekt in die Klaviermusik eingedrungen ist wahrscheinlich nur noch ein anderer der großen Titanen unter den Pianisten, der Russe Svjatoslav Richter, obwohl das grimme, eine gewisse Kälte nicht entbehrende Klavierspiel Richters pianistisch mit dem feinnervigen Fließen von Brendel überhaupt nicht zu vergleichen ist.

Die unendlichen Dimensionen, die Alfred Brendel mit seinen Interpretationen erreicht hat, lassen sich wohl auch nur mit solch‘ tief geistigem Eindringen in die Musik erreichen. Was die Klavierwerke von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, aber auch Liszt betrifft, gehört er zur Referenz, ebenso nachhaltig wirken seine Interpretationen der Klavierkonzerte von Brahms oder des Klavierkonzertes von Schönberg, nicht zu vergessen seine Interpretationen von Kammermusik bzw. das Mitgestalten von Liederabenden am Klavier, besonders mit Hermann Prey.

Eine ausgefeilte Technik wie virtuos brillantes Klavierspiel hat ihn ebenso ausgezeichnet, im Vordergrund sind bei ihm jedoch immer die geistige Erfassung und die Interpretation des jeweiligen Werkes ganz im Sinne des jeweiligen Komponisten gestanden. Mit seinem sprichwörtlich hintergründigen Humor hat sich der, der zu den letzten Abgründen der Musik vorgedrungen ist, ebenso ausgezeichnet wie durch subtile, an die Essenz gehende, reflektierende Darbietungen großer Klaviermusik. 

Seit 1950 hat er in Wien konzertiert, in weiterer Folge dann bald fast überall auf der Welt. Bis heute nicht nachvollziehbar, dass er bei den Salzburger Festspielen zum ersten Mal erst 1977 – mit einem Schubert Programm – aufgetreten war, ein Umstand, den Andrea Seebohm im „Kurier“ zu Recht wie folgt kritisierte: „Brendels Schubert-Interpretationen gehören zweifellos zum Größten, Aufregendsten, was unsere an schöpferischen Meisterleistungen reiche Zeit hervorgebracht hat. Und es mutet wie ein schlechter Witz an, dass dieser Mann … warten musste, um seinen ersten Salzburger Solo-Abend geben zu dürfen, während weit jüngere und konventionellere Pianisten diese Chance längst erhielten.“

2008 hat er sich von der Konzertbühne verabschiedet – nicht, wie man meinen könnte, mit Beethoven oder Schubert, sondern, im Wiener Musikverein, gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern unter Sir Charles Mackerras, mit Mozarts Konzert für Klavier und Orchester Nr. 9 Es-Dur KV 271, dem sog. „Jenamy“-Konzert, denn für ihn „ist Mozart so anspruchsvoll, weil jede Note, jede Nuance zählt und alles bloßgelegt wird in der äußersten Reduktion. Man kann einfach nichts verbergen.“, wie er selbst bekannt hatte.

Geistesmensch, der er zeitlebens war, war er nach seinem Abgang von der Konzertbühne noch lange unterwegs und präsent als Autor und Vortragender, immer mit Selbstironie. Gestern, am 17. Juni 2025 ist Alfred Brendel, dessen hervorstechenden Markenzeichen seine typischen, tieflotenden wie lebensklugen Deutungen nicht nur der Musik von Schubert – mit der er Interpretationsgeschichte geschrieben hat – waren, in London gestorben.

Abgesehen von seinen Einspielungen der Klaviermusik von Schubert noch eine CD-Empfehlung, seine Einspielungen sämtlicher Klaviersonaten von Beethoven zwischen 1992 und 1996, entstanden im Rahmen von Konzerttourneen an verschiedenen Orten in ganz Europa, für Philips, erhältlich noch bei Decca. Dieser letzte Zyklus kann als Essenz seiner langjährigen Erfahrung mit dem Sonatenkosmos von Beethoven angesehen werden. Brendel spielt mit dem nötigen Zug, lässt aber den langsamen Sätzen genügend Zeit, um sich tiefsinnig zu entfalten. Seine straffe Akzentuierung und seine differenzierte Nuancierung überzeugen ebenso wie seine höchste Transparenz, womit er beispielsweise das Finale der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 „Hammerklavier“ spielt, deren Komplexität sich derart selbst einem Laien erschließt.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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