Am 28. Mai 2025 ist im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses ein eindrucksvolles, ja ergreifendes Konzert zu erleben, das man als aufmerksamer Hörer nach zweieinhalb Stunden förmlich erschlagen, nahezu mitgenommen verlässt. Das Gewandhausorchester spielt unter seinem 21. amtierenden Gewandhauskapellmeister, Andris Nelsons, verstärkt von den Herren des MDR-Rundfunkchores (Einstudierung: Pavel Brochin), des Chores der Oper Leipzig (Einstudierung: Thomas Eitler-de Lint) und des Gewandhauschores (Einstudierung: Gregor Meyer), der Violinistin Baiba Skride, des Bassisten Günther Groissböck – sowie des Gewandhausorganisten Michael Schönheit, der zu Beginn an der mächtig schallenden Orgel des Gewandhauses die Passacaglia aus der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ op. 29 von Schostakowitsch in der Fassung für Orgel zum Besten gibt.
Um es gleich vorwegzunehmen: Das uneingeschränkt bestens aufgestellte Gewandhausorchester beeindruckt den ganzen Abend mit einer phänomenalen Klang- und Orchesterkultur und einer nie nachlassenden Intensität des Musizierens, Andris Nelsons spürt in seiner Interpretation Charakter und Wesen von Schostakowitsch‘ Musik mit enormem Tiefgang förmlich auf den Grund.
Vor der Pause erklingt dann noch das Violinkonzert Nr. 2 cis-moll op. 129 aus Schostakowitsch‘ Feder – David Oistrach gewidmet und von ihm mit Kirill Kondrashin im September 1967 uraufgeführt, das letzte Instrumentalkonzert des Komponisten. Dieses Werk geht, charakteristisch für die späte Schaffensphase von Schostakowitsch, in der Abkehr vom Virtuosen und Rhapsodischen noch einen Schritt weiter. Der Solopart darin stellt quasi eine seelenvolle Arie ohne Worte dar, es dominiert eine bedrohliche Einsamkeit, ja schmerzvolle Verlassenheit. Und ist dieses Werk bei Baiba Skride in ausgezeichneten Händen. Ihr mit großem Druck auf den Bogen ausgeführtes Spiel auf ihrer Stradivari „Yfrah Neaman“ erzeugt einen vollen, saftigen Klang, entspricht voll dem Charakter des auf den ersten Eindruck vielleicht etwas sperrigen Werkes. Bei genauem Hinhören entdeckt man in ihrer Interpretation aber den musikalisch breiten Ansatz des Werkes, die Elegie des ersten Satzes, besonders den ergreifend lyrischen Gesang des Mittelsatzes und den geistreichen Witz des grotesk abgründigen Final-Rondos, wo die Solistin ihr Instrument werkimmanent richtig traktiert und in ein atemberaubendes Konzertieren mit dem, was Holz, Blech und Schlagwerk betrifft, nicht groß besetzten Orchester tritt. Solistin, Dirigent und Orchester provozieren mit der spannungsgeladenen Wiedergabe heftigen Applaus, eine Zugabe gibt es nicht.
Der russische Dichter und Schriftsteller Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko (1932 – 2017) prangert in seinen Texten hart die regierenden Kreise in der sowjetischen Gesellschaft sowie den weitreichenden Antisemitismus und dessen Verdrängung an: In einem seiner größten, erschütterndsten Werke überhaupt, der Symphonie Nr. 13 b-moll op. 113 „Babi Jar“, uraufgeführt ebenfalls von Kondrashin im Dezember 1962, vertont Schostakowitsch Texte dieses Protestdichters und setzt sie in verstörend bewegende wie abgründig dämonische Klänge.
Stellen die Gedichte der – satirisch grotesken – Sätze zwei bis fünf (Humor. Allegretto, Im Laden. Adagio, Ängste. Largo, Eine Karriere. Allegretto) eigene Aspekte des Lebens in der Sowjetunion dar, behandelt der erste, ungemein bedrückende Satz (Babi Jar. Adagio), der dem Werk seinen Namen gibt, das Massaker der Nationalsozialisten an sowjetischen Juden 1941 in Babi Jar, der „Weiberschlucht“, in einem Tal nahe Kiew. Andris Nelsons, sein Orchester, die für ihre Aufgabe hervorragend präparierten Männerchöre und der bassstarke, sehr eindringliche Günther Groissböck interpretieren diese gewaltige Musik markerschütternd, vernichtend, schockierend, sprachlos, unmittelbar ins Herz zielend und treffend.
Am Schluss des im Grunde hoffnungslosen Werkes dann Frieden: Und nach den fulminanten Soli von Bassklarinette, Violine und Viola, den Klängen von Celesta und Harfe, und, wie zum Beginn, dem Glockenschlag – beginnt und endet das Werk mit einer Totenglocke? – nicht mehr von dieser Welt wiedergegeben, gefühlte unendliche, vollkommene Stille, die man vermeint zu hören, bevor tosender Applaus im Auditorium aufbrandet. Das Gewandhaus verlässt man in die letzten Strahlen der Abendsonne, die einen regnerisch durchwachsenen Tag in Leipzig beschließen, und es mag da so etwas wie Hoffnung aufkommen …