„Lass‘ uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“: Nach wie vor beklemmend

Für die Produktion "Lass uns die Welt vergessen - Volksoper 1938" wurde die Revueoperette "Gruß und Kuss aus der Wachau" rekonstruiert © Thomas Rauchenwald

Zum 125. Geburtstag der Wiener Volksoper 2023 wurde das Buch „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt“ von Marie-Theres Arnbom neu aufgelegt, worin die Schicksale von KünstlerInnen am Haus nach 1938 geschildert werden: Dieses Buch möchte vor allem „den Menschen, die vergessen sind, ihre Geschichte zurückgeben“. Diese Nachzeichnung der schrecklichen Ereignisse von damals stellt auch eine der Grundlagen für die Erarbeitung der Jubiläumsproduktion der Volksoper – Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 – dar, die am 14. Dezember 2023 zur Uraufführung kam und mit der bewusst nicht auf Operettenseligkeit gesetzt wird.

Der niederländische Autor und Regisseur Theu Boermans und die israelische Dirigentin am Haus, Keren Kagarlitsky, wollen mit diesem Stück die Geschichte lebendig werden lassen und rekonstruieren dabei die Situation am Haus vor der NS-Machtübernahme 1938, wo eine Operette mit bereits bestehender Musik und Text von Jara Benes, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda – „Gruß und Kuss aus der Wachau“ – vorbereitet wurde. Zusätzlich erklingt noch Musik von Arnold Schönberg, Fritz Ullmann, Gustav Mahler sowie neu komponierte von Kagarlitsky. Die engagierte Arbeit wird unterstützt von Bernhard Hammer (Bühnenbild), Jorine van Beek (Kostüme), Alex Brok (Licht), Arjen Klerkx (Video) und Florian Hurler (Choreografie), sowie von Martin Lukesch (Sounddesign) und Peter te Nuyl (Dramaturgie), unter historischer Beratung von Marie-Theres Arnbom.

Faschismus, Intoleranz und Diskriminierung dieser Zeit führten zu Entlassungen von MitarbeiterInnen sämtlicher Sparten an der Volksoper, diese Menschen wurden wegen ihrer jüdischen Wurzeln oder ihrer politischen Einstellung verfolgt. Der kalten politischen Realität der Nazi-Zeit soll mit „Lass uns die Welt vergessen“, einer Revueoperette mit weiterführenden Motiven vom „Weißen Rössl“, die Flucht in eine schöne Welt, der Traumwelt Operette, gegenübergestellt werden.

Der schmerzhaften Konfrontation mit der Vergangenheit durfte auch in der Feierstunde bewusst nicht aus dem Weg gegangen werden – Volksoperndirektorin Lotte de Beer gebührt Respekt vor ihrem Mut, zum Geburtstag des Hauses das Publikum mit einem dunklen Kapitel (Theater)Geschichte konfrontiert und nicht auf die Neuinszenierung einer großen Operette von Strauss oder Lehar bzw. gar der Festoper schlechthin, Wagners „Meistersinger“, gesetzt zu haben.

Die durch und durch gelungene Produktion überzeugt auch in der 20. Aufführung am 31. Mai 2025 szenisch auf allen Ebenen, weil vom Regisseur Boermans mit bewegendem Nachhall inszeniert. Zwischen den Szenen mit den Proben werden schlaglichtartig auch die familiären Situationen des damaligen Ensembles beleuchtet, Videoeinspielungen zeigen immer wieder den tatsächlichen historischen Rahmen. Mitunter ist die Produktion geradezu von beklemmender Wirkung, wenn beispielsweise dem Schlager „Der Himmel ist so blau, viel tausend Jahre lebe, der Zauber der Wachau“ vom Librettisten Löhner-Beda dessen KZ-Lied aus Buchenwald „O Buchenwald wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen, denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei“ gegenübergestellt wird.

Als hervorragend anzusehen ist auch die kompositorische Arbeit der jungen Dirigentin Kagarlitsky. Die Partitur der Revueoperette von Benes ist ja verloren gegangen, alles, was vorhanden war, ist ein Klavierauszug mit Gesangsstimme, weshalb dieser von der Dirigentin orchestriert wurde. Neben der Instrumentierung wurden auch einige jazzige Farben eingestreut und steht die Operettenmusik im charmanten Kontrast zur schon erwähnten Musik von Schönberg, Ullmann und Mahler. Und am Pult des Orchesters der Wiener Volksoper gelingt dem Dirigenten Kaapo Ijas eine schmissige, wie auch fein gefühlvolle Umsetzung dieser seltenen Musikmischung.

Unbedingt zu erwähnen sind die Ausführenden Marco Di Sapia als Intendant Alexander Kowalewski, Andreas Patton als Souffleur Ossip Rosental, Florian Carove als Autor Hugo Wiener, Carsten Süss als Librettist Fritz Löhner-Beda, Lukas Watzl als Dirigent Kurt Herbert Adler, Jakob Semotan als Regisseur Kurt Hesky, Szymon Komas als Ausstatter Leo Asch, Gerhard Ernst als Bühnenmeister, Rebecca Nelsen als Hulda Gerin (Miss Violet), Ben Connor als Viktor Flemming (Graf Uli von Kürenberg), Wolfgang Gratschmaier als Fritz Imhoff (Püringer), Nicolaus Hagg als Walter Schödel (Werkmeister) und Ulrike Steinsky als Frida Hechy (Witwe Aloisia Bründl).

Am Schluss gibt es standing ovations, vor allem vom glücklicherweise zahlreich erschienenen, jungen Publikum.

Übrigens – Kurt Hesky gelingt 1938 die Flucht nach Brasilien, Alexander Kowalewski gelingt die Flucht nach Frankreich und kehrt nach Kriegsende nach Wien zurück, Jara Benes stirbt 1949 völlig verarmt in Wien, Kurt Herbert Adler flüchtet 1938 nach Amerika, leitet ab 1953 die San Francisco Opera, wo er zu einem der einflussreichsten Operndirektoren weltweit wird, Hugo Wiener flieht 1938 nach Kolumbien, kehrt nach dem Krieg zurück und wird zu einem der bekanntesten Künstler der Wiener Kleinkunstszene, Fritz Löhner-Beda wird 1942,  Victor Flemming 1944 in Auschwitz ermordet, Hulda Gerin muss 1942 Deutschland verlassen und zählt nach dem Krieg als Hilde Güden zu den bekanntesten Sängerinnen …

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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