Verebbende Stille – Franz Welser-Möst dirigiert die Wiener Philharmoniker mit Mahlers IX.

FWM
Franz Welser-Möst © Julia Wesely

Das Wiener Konzerthaus widmet Franz Welser-Möst, seit mehr als zwanzig Jahren Musikdirektor in Cleveland, in dieser Saison einen eigenen Zyklus mit verschiedenen Spitzenorchestern. Hatte der Dirigent, der zu einem der bedeutendsten Interpreten der Gegenwart am Pult zu zählen und gewiss der erfolgreichste österreichische Dirigent seit Herbert von Karajan und Nikolaus Harnoncourt ist, in den letzten Monaten mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, wirkt er am Abend des 22. Februar 2024 im Wiener Konzerthaus unbeeinträchtigt, ja nicht einmal eine Fraktur am rechten Bein scheint ihm etwas anzuhaben.

Auf dem Programm des Konzertes der Wiener Philharmoniker, denen Welser-Möst seit vielen Jahren vertrauensvoll verbunden ist, steht ein einziges Werk, die Symphonie Nr. 9 von Gustav Mahler, entstanden während der Sommerferien in Toblach in Südtirol, eines der großen Abschiedswerke der Konzertliteratur, voller Trauer, Resignation wie Todesahnung. In Mahlers Spätstil gibt es keine Melodie im herkömmlichen Sinne mehr; alles ordnet sich der Entstofflichung und Entmythologisierung des Klanges unter (Andreas Maul) – und wenn man genau hinhört, ist es gerade das, was die Interpretation Welser-Mösts mit den in allen Instrumentengruppen bestens aufgestellten Wiener Philharmonikern charakterisiert. Weitgespannte Orchesterbögen höchster Expressivität dominieren diesen Abend; dass Mahler tonal das Tor zur Moderne mit diesem Werk aufstößt, unterstreichend.

Der erste Satz ist das Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre Tiefen – bevor der Tod kommt (Alban Berg in einem Brief an seine Frau Helene). Von Anfang an herrscht bei Welser-Möst eine Spannung, die dem aufmerksamen Hörer zu fesseln vermag, in höchster Transparenz werden die zerklüfteten Abgründe dieses Andante comodo ausgebreitet, bei ungemein sinnlichem, lyrischem Fluss. Der zweite Satz, mit seinen beiden Ländlern und dem Walzer kommt akkurat, betont, akzentuiert in jedem Takt; die Rondo-Burleske des dritten Satzes peitscht Welser-Möst mit dem hervorragend aufgelegten Orchester nur so in den Saal, virtuoser Furor des Orchesterspiels regiert, geführt von einem Schlagvirtuosen allererster Güte. Die tiefe Seelenmusik des abschließenden Adagios nimmt Welser-Möst eher zügig, was dem Reichtum des Klanges wie dem Ausdruck dieser Musik keinen Abbruch tut. Ein besonders seelenerfülltes Dirigat ist hier zu erleben, bisweilen ekstatisch entfesselt wirkt Welser-Möst, dem die Wiener Philharmoniker all‘ ihren leuchtenden Orchesterglanz bei formidabler Orchesterkultur schenken. Das Finale der Neunten, die Coda, das hat eigentlich mit nichts Irdischen mehr zu tun, das ist ein Gespräch mit Gott (Mariss Jansons) – die Musik löst sich auf in der Zeit, verebbt in der Stille. Und Welser-Möst macht mit diesen letzten Dingen, mit diesem Absterben auch klar und deutlich, dass mit diesen Weltabschiedstakten auch das (19.) Jahrhundert endgültig, unwiederbringlich verlischt …

Ergriffene Stille beim Publikum, das auch im Gegensatz zu anderen Konzerten während des Konzerts kaum gehustet hat, bevor der gerechtfertigte, lautstarke Applaus die Ausführenden feiert. So soll Gustav Mahler klingen.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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